Kalte Fluten
beide gestorben, als ich dreizehn war.«
»Unfall?«, fragte Wiebke mitfühlend.
Thomas schaute sie nachdenklich an. Schließlich straffte er die Schultern und nickte. »Irgendwann müsste ich dir die Geschichte ja sowieso erzählen. Also warum nicht gleich am Anfang?«
»Du machst es aber spannend.«
»Meine Eltern wurden getötet.«
»Oh. Das tut mir leid. Hat man die Täter gefasst?«
Wiebke ärgerte sich augenblicklich, dass die Polizistin in ihr nie zu schlafen schien, nicht einmal bei einem romantischen Dinner mit Kerzenschein.
»Wie man es nimmt. Mein jüngerer Bruder Daniel hat beide im Schlaf erschlagen.«
»Was?«, fragte Wiebke fassungslos und mit offenem Mund. »Was hat er?«
»Versteh mich bitte nicht falsch, wenn ich jetzt sage, dass sie es verdient hatten. Ich bin ein absoluter Gegner der Todesstrafe. Ich selbst kann nicht einmal eine Stubenfliege erschlagen. Ich sage auch ganz klar, dass Daniel zu weit gegangen ist. Aber aus seiner Sicht sind sie nur angemessen für das bestraft worden, was sie ihm und – wenn auch nicht ganz so schlimm – mir angetan haben.«
Wiebke erschauderte. Was konnte ein Kind dazu bringen, seine eigenen Eltern im Schlaf zu erschlagen?
»Was war passiert?«, fragte sie leise.
»Mein Vater war ein brutaler Schläger. Er hat mich, vor allem aber Daniel und meine Mutter regelmäßig vertrimmt. Nur war das noch nicht das Schlimmste.«
Wiebke beschlich eine böse Ahnung.
»Er hat Daniel regelmäßig missbraucht und meine Mutter gezwungen, dabei zuzusehen. Und Daniel musste umgekehrt zusehen, wie er es mit meiner Mutter tat.«
»Und deine Mutter hat nichts dagegen unternommen?«
»Nein, wenn sie ihn gewähren ließ, ersparte sie sich und Daniel für ein paar Tage Prügel. Eines Tages ist Daniel durchgedreht, hat sich einen Baseballschläger besorgt und wie von Sinnen auf meine Eltern eingeschlagen. Das ganze Bett war blutgetränkt«, sagte Thomas mit zittriger Stimme. Er tupfte sich mit der Serviette ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
»Bist du auch …«, flüsterte Wiebke, nachdem sie sich vom Schock des gerade Gehörten ein wenig erholt hatte.
»Nein«, sagte er mit schon wieder festerer Stimme. »Jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnern kann. Du weißt vielleicht, dass alles, was bis zum Alter von fünf Jahren passiert, der frühkindlichen Amnesie zum Opfer fällt. Danach jedenfalls hat er mich nur geschlagen. Für das andere war ja Daniel da.«
»Und warum hat dein Bruder auch deine Mutter …?« Sie traute sich nicht, das Ungeheure auszusprechen.
»Daniel hat sie dafür verantwortlich gemacht, dass sie ihn nicht beschützt hat. Irgendwo sogar verständlich, oder?«
Wiebke nickte betroffen. »Und wie ging es weiter?«
»Nun, Daniel war natürlich schuldunfähig. Wir kamen beide in ein Heim. Ich hatte das Glück, dass mich danach eine Pflegefamilie aufnahm. Dort lebte ich, bis ich mit achtzehn nach Hamburg ging und im Hafen jobbte.«
»Du hast im Hafen gejobbt?«
»Ich hatte ja nicht einmal Abitur. Ich habe also gearbeitet, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt und schließlich Medizin studiert. Schon nicht schlecht, was aus einem Kind aus zerrütteten Verhältnissen, das einmal Heimkind war, noch so alles werden kann, oder?«, fragte Thomas nicht ohne Stolz in der Stimme.
Wiebke schämte sich. Gott, was war ihr Leben doch glatt gelaufen. Was bedeuteten schon ein paar blöde Befragungen durch den Verfassungsschutz? Was machte es da schon aus, dass sie früher unter der Stasi und dem ganzen Mist gelitten hatte?
»Was ist mit Daniel passiert?« Diese Frage musste sie stellen. Sie musste sie einfach loswerden.
»Daniel ist mit siebzehn aus dem Heim abgehauen und dann, soweit ich weiß, zur See gefahren. Ich habe seit Jahren, fast sind es schon Jahrzehnte, nichts mehr von ihm gehört. Dabei würde ich mich wirklich freuen, wenn er sich melden würde. Er ist ein guter Junge und – nicht zu vergessen – mein Bruder.«
Wiebke hatte einen trockenen Hals. Mitleid für Thomas überkam sie. Abscheu für die Eltern. Aber auch eine undefinierbare Angst vor dem Bruder, der so furchtbar gequält worden war, dass er Vater und Mutter erschlagen hatte. Sie schwieg, wollte zum Weinglas greifen, besann sich aber und trank stattdessen Wasser. Jetzt bloß einen klaren Kopf behalten, dachte sie.
Sie schwiegen minutenlang.
»Ich wusste, dass du mit mir nichts zu tun haben willst, wenn du die Geschichte kennst«, stellte Thomas dann fest. »Das war
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