Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff

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Frau verzehrte, so klar war ihm, dass es nicht gut gehen konnte.
    Sie erwartete einen monogamen, treuen Mann. Einen, der »normal« war. Wie immer das auch definiert war. Jedenfalls aber keinen, der regelmäßig Swingerclubs besuchte. Also müsste er lügen, um sie zu bekommen. Und ein Doppelleben führen, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Früher oder später würde alles herauskommen. Und dann? Dann wäre sie da, die Beziehungskatastrophe.
    Die kreischenden Anklagen. Die bohrenden Fragen. »Wie lange geht das schon so?« oder »Genüge ich dir etwa nicht?« und all die anderen sinnlosen Vorwürfe. Sinnlos, weil niemand seine Sexualität leugnen kann, ohne ernsthafte Schäden an der Psyche zu nehmen. Sinnlos, weil er so war. Sinnlos, weil er sich nicht würde ändern können.
    Besser, er bliebe allein und genösse die Freundschaft mit Wiebke, ihre Zuneigung, ihre erfrischend offene, ehrliche und direkte Art. Aber eben nur als Freundin. Nicht als Geliebte oder Partnerin. Irgendwie gehörten sie ja außerdem auch zum selben Laden. Sie waren in gewisser Weise Kollegen. Never put your pen in company’s ink. Sagen die Amerikaner. Recht haben sie.
    ***

    »Herr Doktor, das müssen sie mir glauben. Ich bin nicht verrückt«, sagte die Frau verzweifelt. Sie war Anfang dreißig, schlank, gut gekleidet und gepflegt. Nur ihre Augen strahlten Misstrauen, hektische Nervosität und Angst aus. Ruhelos wanderte ihr Blick durch das Behandlungszimmer der ambulanten Abteilung der Klinik.
    Thomas nickte. »Natürlich sind Sie nicht verrückt«, sagte er. Natürlich war sie es. In gewisser Weise und je nachdem, welchen Standpunkt man einnahm. Abnormalität ist die Abweichung vom Normalen. Und »normal« ist das, was von der Gesellschaft in ihrer jeweiligen Zeit als »normal« definiert wird. Wer davon abweicht, ist per Definition krank, muss behandelt und vielleicht sogar eingesperrt werden. So einfach ist das. Nur ist es schwer für den Betroffenen, das zu akzeptieren.
    Noch bis in das 17. Jahrhundert galten Menschen, die behaupteten, die Erde sei keine Scheibe, sondern eine Kugel, als verrückt. Als Sonderlinge. Als gefährliche, zu verfolgende, vom Teufel besessene Kreaturen, die zu eliminieren eine göttliche Pflicht war. In diesem Sinne zwang die katholische Kirche den berühmten Gelehrten Galileo Galilei, seine Lehre zu widerrufen. Er tat es, um dem Scheiterhaufen zu entgehen, wurde aber 1992, kaum dreihundertfünfzig Jahre nach seinem Tod, von ebenjener Kirche rehabilitiert. Aus heutiger Sicht war Galileo normal, und seine Verfolger waren verblendete religiöse Fanatiker. Damals aber waren die Inquisitoren normal und gesund.
    Heute kokettieren Sänger, Schauspieler, ja sogar manche Politiker damit, schwul zu sein. Bis in die siebziger Jahre hinein galt Homosexualität als behandlungsbedürftige psychische Krankheit.
    Der britische Mathematiker Alan Mathison Turing half dem britischen Geheimdienst mit seiner Genialität, den Code der deutschen Dechiffriermaschine Enigma zu entschlüsseln. Eine der am meisten gefürchteten Waffen Nazideutschlands, die U-Boot-Flotte, wurde damit wirkungslos. Im Grunde war Turing ein Kriegsheld. Das hinderte die Briten aber nicht daran, Turing, nach dem inzwischen der als Nobelpreis der Informatik geltende »Turing-Preis« benannt wurde, 1952 wegen »grober Unzucht und sexueller Perversionen« zu verfolgen. Sie stellten ihn vor die Wahl: Gefängnis oder psychiatrische Behandlung. Alan Turing entschied sich für Letzteres. Sein Todesurteil. Er schluckte weibliche Hormone, bekam Brüste, verfiel in tiefe Depressionen und beging in aussichtsloser Lage 1954 Selbstmord, indem er einen mit Zyanid vergifteten Apfel aß.
    Heute gilt Homosexualität als eine normale Variante menschlicher Sexualität.
    Normal heißt gesund.
    Die Frau mit den scheuen, hektischen Augen hatte ein großes Problem. Sie war geschieden. Ihr Mann ertrug es nicht mehr, wenn sie hin und wieder »ihre verrückte Phase hatte«, wie er es nannte. Das Sorgerecht für den Kleinen war ihr geblieben. Bis vor drei Wochen, als besorgte Nachbarn die Polizei gerufen hatten, weil die Frau wie rasend war. Sie warf Möbelstücke aus dem Fenster. Sie brüllte. Sie schrie.
    Die Männer der Psychiatrie hatten sie schnell überwältigt. Eine Spritze stellte sie ruhig. Was in der Spritze war? Die Männer mit den weißen Turnschuhen waren nicht zur Rechenschaft verpflichtet. Die Frau war schließlich verrückt. Wer interessierte sich schon