Kalte Haut
Sicherungen durchgebrannt. Er warf ihr vor, sie habe seine Ehre verletzt. Fast jeden Abend war die Polizei bei uns. Wir haben eine Anzeige erstattet, weil ihr Mann, der war … der war ja nicht mehr richtig im Kopf. Immer wieder diese Drohungen … und jedes Mal krasser. Aber die Polizei …« Ihre Stimme wurde von einem Gurgeln erstickt. Wieder flossen Tränen.
Als Eva sich beruhigt hatte, fragte sie: »Verstehen Sie jetzt? Wenn sie mich nicht gekannt hätte und über mich nicht meinen Bruder, dann … dann wäre es vielleicht nie so weit gekommen.«
»Mag sein, aber wer hätte ihr dann in ihrer Not beigestanden?«
Die Lippen von Adiles Freundin bebten, aus ihren Augenwinkeln rannen neue Tränen. Dann nickte sie.
Sera nahm das Foto von Adile und Sebastian vom Kühlschrank. »Darf ich das mitnehmen?«
»Wozu?«
»Nur zur Sicherheit.«
12
Robert wirbelte herum. Im dunklen Durchgang zum Wohnzimmer stand sein Bruder. »Musst du mich so erschrecken?«
Robert glaubte, über Max’ Lippen ein Lächeln huschen zu sehen, vielleicht war es aber auch nur eine Täuschung. Als Max ins Licht trat, wirkte seine Miene angestrengt wie meistens. Er deutete auf den Bilderrahmen, den Robert noch immer in den Händen hielt. »Erinnerst du dich?«
»Na klar.« Robert reckte die flache Hand empor, doch sein Bruder erwiderte den Gruß nicht. Er ließ den Arm sinken. »Ich dachte, du musst zur Arbeit?«
»Das war gelogen.«
»Bist du nicht mehr …?«
»Doch, aber die Proben beginnen erst am Mittag.«
»Du bist mir gefolgt?«
Max schüttelte den Kopf. Eine Strähne fiel ihm in die Stirn. »Nein. Ich dachte mir, dass du zum Haus fährst.«
»Eigentlich hatte ich es nicht vor.«
»Und trotzdem bist du jetzt hier.« Mit einer raschen, trotzigen Handbewegung fegte Max die Haare aus seinem Gesicht. »Ich hatte also recht.«
Robert betrachtete den Bilderrahmen erneut. Sein Bruder machte keinerlei Anstalten, das Gespräch fortzusetzen, sondern vergrub die Hände in den Taschen seines Ledermantels. Eine Geste, mit der er seinen Groll zügelte. Er hat sich keinen Deut verändert. Mit seinen Doc Martens kickte er einen Steinbrocken über die dreckigen Dielenbretter.
Staub wirbelte auf. Als er sich gelegt hatte, fragte Max: »Warum bist du hierhergekommen? Obwohl du es doch nicht wolltest?«
Robert leckte sich die Lippen. Staubig. »Ich weiß nicht. Plötzlich war es mir wichtig.«
»So wie das Grab?«
Robert nickte. »Und warum bist du zum Haus gekommen?«
»Ich wollte nicht, dass du hier allein bist.«
»Hast du dir Sorgen um mich gemacht?«
»Vier Jahre lang.«
Max drehte sich um und stapfte ins Wohnzimmer oder das, was es einst gewesen war. Verschiedenfarbige Tapetenreste und senkrechte Narben, wo Trennwände herausgerissen worden waren, ließen die Umrisse früherer Zimmer erkennen. Jemand hatte begonnen zu sanieren, aber mittendrin aufgehört. Nichts deutete darauf hin, dass die Arbeiten demnächst wieder aufgenommen würden, nur ein zerbrochener Hammer lag einsam im Raum herum.
In den Ecken zerrissene Einkaufstüten, ein Schlafsack, eine Isomatte – und zu Roberts Überraschung auch Möbelstücke von früher. Er entdeckte das verbogene Metallgestell eines Notenständers. Nicht weit davon entfernt lag der schmale, mit Notenschlüsseln verzierte Lampenschirm. Achtelnoten. Die Einzelteile des Plattenspielers waren wie Knochen zwischen Mörtel und Beton verstreut worden.
»Und?«, fragte Max.
Im ersten Moment wusste Robert nicht, was sein Bruder meinte.
»Wie geht es dir jetzt?«
»Ich bin müde.«
»Müde?«
»Der Jetlag!«
»Ach so«, sagte Max. »Aber das habe ich nicht gemeint. Ich wollte wissen, wie du dich fühlst, jetzt, nachdem du zurück in Berlin bist, vor dem Grab gestanden und das Haus besucht hast?«
Roberts Blick fand unwillkürlich das milchige Foto zwischen seinen Händen. Dann betrachtete er das verfallene Zimmer. Warum war die Sanierung abgebrochen worden? Du weißt die Antwort!
Selbst der Obdachlose, der irgendwann vorübergehend hier Zuflucht gefunden hatte, hatte das Weite gesucht, noch dazu augenscheinlich überstürzt, da er seine Tüten, den Schlafsack und die Isomatte zurückgelassen hatte. Sogar die obszönen Graffiti, die jugendliche Einbrecher an die verbliebenen Wände gesprüht hatten, wirkten seltsam unfertig. Aber manchmal, da habe ich das Gefühl, als wäre … Robert ahnte, was Reginald von Deese hatte sagen wollen. … als wäre das Haus verflucht . Niemand hielt es
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