Kalte Haut
Blutdruck, Sauerstoffgehalt, Atmung und Körpertemperatur überwachten, die Funktion der Organe unterstützten und die erforderlichen Medikamente exakt dosierten. Aus aufgehängten Plastiksäcken floss eine klare Flüssigkeit durch Schläuche, die in einer Vene an Adiles Arm verschwanden. Ein rot glimmendes Lämpchen war an ihrem rechten Zeigefinger befestigt.
»Wir haben dreizehn Stich- und Schnittverletzungen bei ihr festgestellt«, erklärte der Arzt. »Zum Glück sind keine lebenswichtigen Organe verletzt worden. Sie wird also überleben.«
»Ist sie bei Bewusstsein?«
»Nein, und wie ich schon sagte, wird das noch eine Weile dauern. Wir haben eine Sedierung vornehmen müssen.« Nun schwang doch Unmut in Dr. Rösners Stimme mit.
Sera konnte ihn verstehen: Er hatte zweifellos Wichtigeres zu tun, als eine Polizeibeamtin zu einer komatösen Patientin zu geleiten. Von ihm gab es nichts zu erfahren, was nicht auch dem offiziellen Krankenbericht zu entnehmen gewesen wäre, der mit Sicherheit längst auf Seras Schreibtisch im Präsidium lag.
Aber darum geht es nicht! Oder doch? Sera blickte auf die junge Frau hinab. Jetzt, da sie vor dem Krankenbett stand, war sie sich nicht mehr sicher, warum es sie hierhergezogen hatte. Als sie sich vorhin, nach dem Frühstück, von Gerry verabschiedet hatte, war unvermittelt der Wunsch in ihr erwacht, Adile im Krankenhaus aufzusuchen – egal ob diese davon etwas mitbekam oder nicht. Für Sera war der Besuch eine Form von Anteilnahme, von Verantwortung.
Ihr Traum der letzten Nacht fiel ihr wieder ein. Der reißende Fluss, die Ertrinkende im Wasser, die Verzweiflung. Und: Frauen wie du sind schuld.
Der Pager des Arztes meldete sich. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen …«
»Nein, ist schon in Ordnung.« Sera folgte ihm auf den Gang hinaus. »Ich muss sowieso aufs Präsidium.«
24
Robert wartete eine Minute, ohne dass ihm jemand öffnete. Dann drehte er sich nach seinem Bruder um. Max lief bereits Richtung Ostkreuz.
Robert griff nach seinem Koffer. Wenn er sich beeilte, konnte er ihn noch einholen und ihn zur Deutschen Oper begleiten, ihm möglicherweise sogar bei den Proben zuhören. Ihm gefiel der Gedanke, sich den Nachmittag mit der Musik seines Bruders zu vertreiben. Während seiner Reisen in Amerika war die Auswahl an guter Musik nicht groß gewesen: Egal in welchen Landstrich es ihn auch verschlagen hatte, entweder spielten die Sender Hardrock oder dudelten ohne Unterlass Country.
Robert malte sich aus, wie er in wenigen Minuten mit seinem Bruder die Deutsche Oper betreten würde. Drinnen würde Max dann seinen Platz im Orchestergraben einnehmen. Wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und sich mit seiner Geige zum Üben vor dem Plattenspieler aufgestellt hatte, würde er über die Saiten streichen. Vorsichtig, als könnte er die dünnen Fäden mit einer unbedachten Bewegung seines Bogens zerreißen. Mit jedem neuen Ton würde Max an Sicherheit gewinnen, bis er schließlich Beethovens anrührende, kraftvolle, erhebende Ouvertüre zur Oper Fidelio spielen würde, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.
Als Kind war Robert neidisch auf das Talent seines Bruders gewesen. Er selbst hatte nie ein Instrument erlernt. Zwar hatte er sich bemüht, aber es war ihm schwergefallen, Noten zu lesen, wie ein Musiker ihre Melodie zu spüren, den Rhythmus zu finden und …
»Mensch, Püppi!«, blaffte eine Stimme. »Haste wieda den Schlüssel vajessen?«
Robert wandte sich wieder dem Haus zu.
»Du und deine Pediküre«, bellte es weiter aus der Gegensprechanlage. »’n Wunder, dass de dein eijenen Kopp noch nich vajessen hast.«
»Hier ist Babicz.«
»Wat? Wer?«
»Ich möchte bitte zu Frau Kornfeld.«
»Haben Se doch jrade jehört: Meene Frau is nich da.«
Meine Frau? Jene Frau Kornfeld, die Robert anzutreffen gehofft hatte, war zwar tatsächlich schusselig gewesen, aber obendrein dreiundsiebzig Jahre alt und seit mehr als fünfzehn Jahren Witwe. »Mit wem spreche ich?«
»Na, mit Kornfeld, da ham Se doch jrade jeklingelt.« Ein genervtes Schneuzen ertönte. »Und wer sind Sie?«
»Babicz, Dr. Robert Babicz. Ihr Mieter.«
»Wat?« Kornfeld prustete. »Det wüsst ick aba.«
»Ich wohne in der Wohnung im Vorderhaus, Parterre rechts. Die mit der kleinen Praxis. Dr. Robert Babicz. Diplom-Psychologe.«
»Ach, Sie sind det?«
Der Summer ging, und die Tür zum Treppenhaus sprang auf. Fidelio begrüßte Robert, bis das Rumpeln einer Straßenbahn
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