Kalte Haut
Haaransatzes, die von einem Fahrradunfall in seiner Kindheit stammte, war auch sein Äußeres nicht ohne Wirkung auf sie geblieben. Vor allem aber hatte seine dunkle, immer leicht verrucht klingende Stimme für ein anhaltendes Prickeln auf ihrer Haut und in ihrem Magen gesorgt.
Bei ihren ersten Verabredungen hatte er wie jemand gewirkt, der ständig zwischen verschiedenen Welten wechselte. Ständig enthüllte er neue Facetten an sich, ohne dabei plump den neuesten Moden hinterherzulaufen. Manche hätten ihn vielleicht als ruhelos bezeichnet, Sera faszinierte sein ständiger Wandel. Sie hatte ein ganz anderes Problem mit ihm: Er war verheiratet und Vater von zwei Kindern. Und es war damals nicht die Tochter des Geschäftspartners, sondern seine eigene gewesen, die den Pachtvertrag bekritzelt hatte. Aber das alles hatte er ihr erst verraten, als es schon um sie geschehen war.
Seitdem trafen sie sich regelmäßig in den Räumen über dem Café, in denen er ein Büro mit Schlafraum eingerichtet hatte. Das Ernie & Bert war häufig bis in die frühen Morgenstunden geöffnet. Wenn Gerry die Müdigkeit überkam oder er mit Stammgästen zu tief ins Glas geguckt hatte, musste er daheim nicht Frau und Kinder wecken, sondern konnte sich gleich hier schlafen legen – oder sich eben mit Sera treffen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte, weder seine noch ihre Familie.
»Das mit uns läuft jetzt schon ein halbes Jahr so«, klagte Gerry.
»Und es hat sich nichts verändert«, hielt Sera dagegen.
»Doch, eine Menge.«
Sie presste Lotion aus einer Tube und cremte sich das Gesicht ein. »Nämlich?«
»Ich liebe dich!«
Sera hielt inne und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Sag so etwas nicht!«
»Aber es ist die Wahrheit!«
»Das …« Das Handtuch drohte, ihr vom Körper zu rutschen. Schnell umklammerte sie den Stoff mit ihren Armen. »Das ist Scheiße.«
»Was ist denn das für eine Aussage?« Gerry folgte ihr ins Schlafzimmer. Er wollte sie umarmen, doch sie entwand sich seinen Händen. Stattdessen schlüpfte sie in ihre schwarze Unterwäsche, die im Raum verteilt lag.
»Ich könnte mich von meiner Frau trennen«, schlug er vor.
Wortlos streifte Sera sich das Kapuzenshirt über den Kopf.
»Du weißt, dass eine Scheidung nicht so einfach ist.«
Sie setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Jeans. »Siehst du: Und bei mir ist es dasselbe – nicht einfach.«
»Aber du hast mir doch erzählt, dein Vater sei stolz auf dich und auf das, was du erreicht hast. Er hat eine selbstständige Tochter mit einem respektablen Beruf.«
»Ja, darauf ist er auch stolz, manchmal zumindest … Ach, was weiß ich denn.« Sie strampelte wütend mit den Beinen, um in die Hose zu schlüpfen. »Aber eins weiß ich ganz sicher: Darauf, dass ich in meinem Alter noch unverheiratet und kinderlos bin, darauf ist er alles andere als stolz. Und was glaubst du, was er sagen wird, wenn er hört, dass seine Tochter mit einem verheirateten Deutschen …«
»Deutscher Ire, bitte! … Aua!« Er ächzte, als ihn ein Schlag in die Seite traf. »Wie kann er sich außerdem beschweren: Du hast doch gesagt, er war selbst zwei Mal verheiratet, hat vier Kinder von zwei Frauen und …«
»Das ist nicht das Gleiche!«
»Beim besten Willen: Das verstehe ich nicht.« Gerry ließ die Schultern hängen.
Sera fischte nach den Socken, die unter der Tageszeitung lagen. Beinahe-Ehrenmord: Türkin von Ehemann niedergestochen! Sie dachte an Amiel, den gekränkten Ehemann. Sehmus, seinen Vater. Fatma, die Großtante von Adile. Frauen wie du sind schuld . Mergim, ihr eigener Onkel, kam ihr in den Sinn. Und immer wieder ihr Vater. Baba meint es nur gut mit dir .
Sie ging in die Küche, wo Gerry den Frühstückstisch gedeckt hatte. Auf ihrem Teller lag eine Rose. Sie schnupperte daran. Sie duftete frisch, süß – und nach Aftershave.
Seras Blick fand die Narbe auf Gerrys Stirn, ein winziger Streifen in der Form eines Seepferdchens. Sie wollte Gerry umarmen, blieb aber stehen. »Ich verstehe es auch nicht.«
22
Robert schlug die Augen auf und stöhnte. Grelles Licht fiel durch einen Spalt in der Gardine. Er vermied einen Blick auf die Uhr. Der Stand der Sonne reichte aus, um einzuschätzen, wie spät es war. Weit nach Mittag. Was ihn kaum verwunderte. Er war viel zu spät eingenickt. Herrje, wie lange soll das noch so weitergehen?
Mit pochenden Schläfen schleppte er sich unter die Dusche, wo er kaltes Wasser auf seinen Körper prasseln ließ. Die
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