Kalte Herzen
vor.«
Die Tür fiel zu, und der Riegel wurde vorgeschoben.
Abby lag in völliger Dunkelheit. Sie hörte das Klappern der Treppe, als die drei Männer zum Oberdeck hinaufstiegen, und das leise Zuklappen einer Luke. Danach hörte sie eine Weile nur den Wind und das Ächzen des Schiffes, das an den Leinen zerrte.
Stellen Sie sich das vor.
Sie schloß die Augen und versuchte, nicht an Pete zu denken, Doch plötzlich sah sie ihn vor sich, stolz in seiner Wölflingsuniform. Sie dachte daran, wie er als Fünfjähriger gesagt hatte, daß Abby das einzige Mädchen war, das er heiraten wollte.
Und wie empört er gewesen war, als er erfahren hatte, daß man eine Schwester nicht heiraten kann.
Was hätte ich getan, um dich zu retten? Alles. Was auch immer.
In der Dunkelheit raschelte etwas.
Abby erstarrte. Sie hörte es wieder, die Spur einer Bewegung.
Ratten! dachte sie.
Abby wich vor dem Geräusch zurück und versuchte, sich auf die Knie zu kämpfen. Sie konnte nichts erkennen, stellte sich aber riesige Nager vor, die überall um sie herum über den Boden huschten. Sie rappelte sich auf die Füße.
Dann hörte sie ein leises Klicken.
Plötzlich attackierte grelles Licht ihre Netzhäute. Sie machte einen Satz nach hinten. Über ihr pendelte eine nackte Birne leise gegen eine Kette.
Was sie in der Dunkelheit gehört hatte, war keine Ratte, sondern ein Junge.
Sie starrten einander an, ohne ein Wort zu sagen. Obwohl er ganz still stand, konnte sie die Furcht in seinen Augen erkennen.
Seine dünnen, nackten Beine steckten in Shorts und waren auf dem Sprung zu fliehen, nur daß man nirgendwohin fliehen konnte.
Abby schätzte den Jungen auf zehn Jahre. Er war sehr blaß und sehr blond, im Licht der Glühbirne glänzte sein Haar fast silbern. Sie bemerkte einen bläulichen Fleck auf seiner Wange und erkannte empört, daß es kein Schmutz, sondern ein Bluterguß war. In seinem weißen Gesicht sahen seine tiefliegenden Augen aus wie zwei weitere Wunden.
Abby machte einen Schritt auf ihn zu. Sofort wich er zurück.
»Ich will dir nichts tun«, beschwichtigte sie. »Ich will nur mit dir reden.«
Ein Stirnrunzeln huschte über sein Gesicht, er schüttelte den Kopf.
»Ich verspreche es dir. Ich tue dir nichts!«
Der Junge sagte etwas, doch seine Antwort war unverständlich.
Jetzt war es an ihr, den Kopf zu schütteln. Sie musterten einander in gemeinsamer Verwirrung.
Plötzlich blickten beide nach oben. Die Motoren des Schiffs waren angesprungen.
Abby lauschte angespannt auf das Rasseln der Ketten und das Kreischen der Hydraulik. Kurz darauf spürte sie, wie der Rumpf das Wasser pflügte und auf den Wellen schwankte. Sie hatten abgelegt und waren in See gestochen.
Selbst wenn ich mich von diesen Fesseln und aus diesem Raum befreie, kann ich nirgendwohin fliehen! durchfuhr es sie.
Verzweifelt schaute sie den Jungen an.
Er beachtete das Motorengeräusch gar nicht mehr. Sein Blick war zu ihrer Hüfte gewandert. Er bewegte sich langsam seitwärts, starrte auf die eng hinter ihrem Rücken gefesselten Handgelenke und betrachtete seinen eigenen Arm. Erst jetzt bemerkte Abby, daß seine rechte Hand fehlte und sein Unterarm in einem Stumpf endete. Er hatte ihn bisher eng an den Körper gedrückt, um seine Deformation vor ihr zu verbergen.
Nun blickte er sie wieder an und sagte erneut etwas.
»Ich kann nicht verstehen, was du sagst«, erwiderte sie.
Er wiederholte es mit einem leicht trotzigen Unterton. Warum konnte sie ihn nicht verstehen? Was war los mit ihr? Sie schüttelte nur den Kopf.
In gegenseitiger Frustration sahen sie einander an. Dann hob der Junge das Kinn. Sie begriff, daß er zu irgendeinem Entschluß gekommen war. Er ging um sie herum und zerrte an ihren Handgelenken, um die Fesseln mit seiner einen Hand zu lösen, doch der Knoten war zu fest. Da kniete er sich auf den Boden, und sie spürte seine Zähne und den heißen Atem auf ihrer Haut. Im Licht der schwankenden Birne begann er wie eine kleine, entschlossene Maus an ihren Fesseln zu nagen.
»Es tut mir leid, aber die Besuchszeit ist vorbei«, sagte eine Schwester. »Warten Sie, Sie können da nicht reingehen. Halt!«
Katzka und Vivian marschierten schnurstracks am Schwesternzimmer vorbei und stießen die Tür zu Zimmer sechshunderteinundzwanzig auf. »Wo ist Abby?« wollte Katzka wissen.
Dr. Colin Wettig drehte sich um und sah sie an. »Dr. DiMatteo wird vermißt.«
»Sie haben gesagt, daß sie unter Beobachtung stehen würde«, beharrte Katzka.
Weitere Kostenlose Bücher