Kalte Schulter, Heißes Herz
Schatz behandelte, obwohl die Wahrheit ganz anders aussah.
Heute fiel es ihr besonders schwer. Flavias Großmutter hatte die OP damals zwar gut überstanden, bald darauf jedoch mental ziemlich abgebaut. Ihre Demenz verschlimmerte sich zusehends, und Flavia ließ die alte Dame nur noch ungern allein, selbst wenn es nur für wenige Tage war. Zwar blieb eine Pflegerin solange bei ihr, trotzdem machte Flavia sich permanent Sorgen.
„Keine müden Ausflüchte!“, hatte ihr Vater gewettert, als sie ihm ihre Bedenken mitteilte. „Diese alte Ziege ist mir gleichgültig. Du setzt dich gefälligst in den nächsten Zug! Ich erwarte wichtige Gäste, und da soll alles perfekt sein!“
Dieser extrem scharfe Unterton war ihr neu. Ihr Vater klang angestrengter als sonst. Aber vielleicht hatte er einfach Ärger mit seiner derzeitigen Freundin, Anita, einer arroganten, habgierigen Erbschleicherin.
Bei ihrer Ankunft war noch deutlicher geworden, wie blank seine Nerven lagen, als er Flavia grob am Ellenbogen packte. „Heute Abend kommt ein besonders wichtiger Gast, und ich will, dass du dich speziell um ihn kümmerst. Verstanden?“ Sein harter Blick taxierte sie. „Das solltest du schaffen. Er mag Frauen, besonders die gut aussehenden. Da sollte es mit dir wohl keine Probleme geben. Aber fahr um Himmels willen die Krallen ein und sei mal ein bisschen zugänglicher als sonst!“
Nicht zum ersten Mal sprach er sie auf ihre distanzierte Haltung an, und wie üblich ignorierte sie diesen Vorwurf. Sie war höflich, unterhaltsam und freundlich zu jedermann, mehr aber auch nicht. Es gab Grenzen, auch wenn man sich selbst verkaufte …
„So zugänglich wie Anita?“, fragte sie trocken, wohl wissend, wie sehr ihr Vater das offensive Fremdflirten seiner Lebensgefährtin hasste.
Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. „Frauen wie sie erreichen wenigstens etwas. Sie weiß genau, was sie will und wie sie es bekommt. Du dagegen bemühst dich nicht einmal. Heute tust du es besser! Wie ich schon sagte, es ist wichtig!“
Da war er wieder, dieser scharfe Unterton in der Stimme. Aber Flavia blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern. Im Übrigen war es nicht ungewöhnlich, dass ihr Vater angestrengt dem Geld nachjagte, und wahrscheinlich wartete gerade ein besonders lukrativer Deal auf ihn. Ekelhaft war, dass er dafür sogar seine eigene Tochter anhalten würde, irgendeinem fetten, alten Geschäftsmann Honig um den Bart zu schmieren.
Voller Abscheu über die Taktik ihres Vaters hatte Flavia sich abgewandt, um sich in ihrer gewohnt zurückhaltenden Art seinen Gästen zu widmen. Und während sie die Gästeschar überblickte, erregte plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit. Nein, nicht etwas, sondern jemand .
Offensichtlich war er gerade erst gekommen, denn er stand noch in der Doppeltür zum Flur und hielt ein volles Glas Champagner in der Hand. Er musterte die Gesellschaft in dem prunkvollen Raum und verharrte bei einer Person, die außerhalb ihres Blickfelds stand. Wenigstens gab das ihr die Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten.
Doch dann sah er sie an, und der erste Eindruck rauschte in rasanter Geschwindigkeit durch ihren Verstand: groß, gerade und auffallend breite Schultern, dunkle Haare, starke Gesichtszüge.
Eine Hand hatte er lässig in die Hosentasche gesteckt, und sein Erscheinungsbild strahlte Selbstsicherheit aus.
Er war ein reicher Mann, das konnte man kaum übersehen. Nicht nur der akkurate Haarschnitt und der teure Anzug sprachen Bände, seine ganze Aura wirkte überlegen und kontrolliert. Er war ein Mann von magnetischer Anziehungskraft, vor allem für die Frauenwelt, das stand fest!
Flavia spürte ja selbst den Zauber seiner Präsenz. Unablässig starrte sie ihn an und bemerkte die schöne, gerade Nase, seinen sinnlichen Mund und vor allem die dunklen, undurchdringlichen Augen.
Sie schluckte und merkte, dass sie viel zu flach atmete und ihr Herz immer schneller schlug. Um sich vor seiner unheimlichen Wirkung auf sie zu schützen, sah sie hastig zu Boden und widmete sich dann wieder dem Paar, das bei ihr stand. Hinter sich hörte sie die Stimme ihres Vaters.
„Flavia, Schätzchen, komm doch bitte mal her!“, rief er in dem weichen Ton, den er ihr gegenüber gern in der Öffentlichkeit anschlug.
Gehorsam folgte sie seiner Aufforderung und fand sich wenige Sekunden später genau neben dem Mann wieder, der gerade eben noch ihr Interesse geweckt hatte. Ihre Beine fühlten sich plötzlich taub an, und das
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