Kalte Schulter, Heißes Herz
Sie musste das Ganze vergessen. Ende der Geschichte.
Achtlos ließ sie das Handtuch fallen und streifte sich ihr Nachthemd über. Dann kramte sie ihr Handy hervor und kroch damit unter die weiche Bettdecke.
Höchste Zeit, bei Mrs Stephens anzurufen und sich nach dem Befinden von Grandma zu erkundigen!
Wie immer, wenn sie nicht zu Hause sein konnte, war sie etwas aufgeregt und machte sich Sorgen um ihre geliebte Großmutter. Das vertrieb vorübergehend jeden Gedanken an Leon Maranz und seine unheimliche Anziehungskraft. Er bedeutete Flavia nichts, aber die Probleme in Dorset waren echt und gehörten zu ihrem Leben. Darauf sollte sie sich konzentrieren und nicht auf einen fremden Kerl, mit dem sie kaum ein paar Worte gewechselt hatte.
Es war eine regelrechte Schande, wie leicht sie sich von den ernsthaften Dingen, denen sie sich dringend widmen musste, ablenken ließ. Schließlich ging es um die einzige Person auf diesem Erdball, die Flavia über alles liebte.
Genüsslich kuschelte sie sich in die weichen Kopfkissen und rief zu Hause an. Es war zwar schon ziemlich spät, aber Mrs Stephens würde wohl noch wach sein. Schließlich war sie für eine lückenlose 24-Stunden-Betreuung engagiert worden, und Flavias Großmutter schlief selten eine Nacht durch. Das war einer der Gründe, weshalb die Pflege der alten Dame immer mühsamer wurde – bei aller Liebe.
Die Pflegekraft konnte Flavia beruhigen. In dieser Nacht schien ihre Großmutter nicht unter ihrer Bettflucht zu leiden, besser noch, sie merkte gar nichts von der Abwesenheit ihrer Enkelin. Das war ein Segen, wie Flavia fand, denn auf diese Weise war der Kurztrip nach London nicht zusätzlich von einem schlechten Gewissen getrübt.
Am meisten machte es ihrer Großmutter zu schaffen, selbst von zu Hause wegzumüssen. Vor sechs Monaten hatte sie einen heftigen Anfall erlitten und musste stationär ins Krankenhaus eingewiesen werden. Es war schwer mit anzusehen gewesen, wie ängstlich und unruhig die alte Dame wurde, nachdem man sie an die Überwachungsgeräte angeschlossen hatte. Permanent versuchte sie, aus dem Bett aufzustehen und sich selbst die Zugänge zu entfernen. Sie weinte, lamentierte und verstand nicht, was man eigentlich von ihr wollte. Mehrere Male wurde sie in anderen Bereichen der Station aufgegriffen, wo sie orientierungslos umherirrte, ganz offensichtlich aber auf der Suche nach irgendetwas, das sie nicht formulieren konnte.
Sobald sie wieder nach Harford gebracht worden war, verbesserte sich ihr Zustand rapide. Trotz der fortschreitenden Demenz fand sie zu ihrem glücklichen, ruhigen Wesen zurück. Seitdem stand für Flavia eines fest: Sie würde immer vermeiden, ihre Großmutter aus dem gewohnten Umfeld zu reißen. Koste es, was es wolle. Die alte Frau brauchte eine vertraute Umgebung, da sie sich auf ihren Verstand und auf ihre Erinnerung nicht mehr verlassen konnte. Es war ein Stück Stabilität, auf das nicht mehr verzichtet werden konnte. Schließlich hatte sie über fünfzig Jahre dort gelebt, seit sie als junge Braut nach Harford gekommen war.
Auch wenn ihr Gehirn nachließ, wusste Flavias Großmutter ganz genau, wo ihr Heim war und wo sie sich sicher fühlte. Stundenlang konnte sie hier umherspazieren, fand sich überall zurecht oder saß einfach nur da und sah in den Garten hinaus, der früher einmal ihr größtes Hobby gewesen war.
Ein trauriges Lächeln lag auf Flavias Gesicht. Es schmerzte sie, ihre Großmutter so hilflos und gebrechlich zu erleben. Ihr war klar, dass sich nach einem langen, erfüllten Leben allmählich ein trauriger Abschied ankündigte. Niemand konnte vorhersagen, wann es so weit war, und abwenden konnte man das Unausweichliche ebenso wenig.
Wie es auch kommen mochte, Flavia war wild entschlossen, ihrer Großmutter das Sterben im eigenen Zuhause zu ermöglichen. Im Beisein ihrer Enkelin.
Flavias Blick veränderte sich, während sie die kahle Wand vor sich anstarrte. Was sie tun sollte, nachdem ihre Großmutter von ihr gegangen war, wusste sie nicht. Auf jeden Fall wollte sie alles Menschenmögliche daransetzen, Harford Hall zu behalten. Sie liebte diesen Ort viel zu sehr, um ihn jemals ganz verlassen zu können.
Lose geplant war, das große Landhaus zu einer noblen Pension umzubauen. Man müsste natürlich vor allem die Bäder und die Küche von Grund auf sanieren und modernisieren, darüber hinaus waren Renovierungen im gesamten Gebäude notwendig, sowie ein paar Änderungen am Grundstück. Dafür musste
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