Kalte Spur
es dunkel. Sie überlegte nicht einmal, die Tür zu öffnen und hineinzugehen.
Sie erreichte das Fensterbrett, blieb eine Handbreit davor stehen, beugte sich vor und hielt den Atem an.
Ja, auf dem Boden lag ein Schlafsack. Und Illustrierte, Papiere und leere Konserven. Ein kleiner Gaskocher war auch da. Und Bücher, dicke, gebundene Wälzer. Und auf einem dunklen Viereck lag etwas, das wie silbernes Besteck aussah, eine ganze Menge silbernes Besteck.
Sie blieb ruhig, doch als sie sich zu den anderen Mädchen umdrehte, sah sie sie davonrennen. Hailey war schon weg, und Jessica verschwand gerade zwischen den Bäumen. Nur Lucy hielt noch mit ängstlicher Miene die Stellung und wartete auf ihre ältere Schwester.
Sheridan wollte ihr schon sagen, da sei nichts, wovor sie sich ängstigen müsse, als sie merkte, dass Lucys Blick zur Seite des Schuppens gesprungen war. Sie folgte ihm und spürte, wie ihr das Herz aus der Brust hüpfen wollte.
Der Mann war groß, dick und ungepflegt. Sheridan sah ihn im Profil, als er um die Ecke bog und Lucy fixierte. Er hatte langes, fettiges Haar, einen schütteren Bart und eine Hakennase. Seine Lippen waren geschürzt, die schwarzen Augen schmal. Er trug eine schwere, dreckige Jacke und eine ausgeleierte Hose.
»Hau bloß ab!«, schnauzte er Lucy an. »Verschwinde!«
Lucy machte auf dem Absatz kehrt, rannte einige Schritte und blieb stehen. Sheridan wusste warum: Sie würde nicht ohne ihre Schwester weglaufen.
Der Mann hatte Sheridan noch nicht gesehen, die sich nun an die Schuppenwand drückte.
Sie hoffte, er würde den Kopf nicht wenden und sie entdecken, doch zu spät.
Einen Moment lang blickte sie in seine dunklen, zornigen und vielleicht auch ein wenig ängstlichen Augen, wie sie später fand.
»V-v-ver schwin de hier, du kleines M-m- mist stück!«,
kreischte er. Ihr Blick glitt über seinen Oberkörper. Auf der Brusttasche seiner Jacke stand in Schablonenschrift »Bob«.
Er machte einen Schritt auf sie zu, und Sheridan hetzte los. Sie war nie schneller gerannt, überholte Lucy binnen Sekunden, langte hinter sich, ertastete die Hand ihrer Schwester, zerrte sie durch den Wald und an dichtem Unterholz vorbei und ließ sie erst wieder los, als sie in Sichtweite des Hauses völlig erschöpft auf dem Rasen zusammenklappten.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Nachdem er Marybeth am Telefon gesagt hatte, er käme später als sonst nach Hause, fuhr Joe anderthalb Autostunden entfernt auf Bud Longbrakes Ranch den Weg zu dem Waldstück hinauf, in dem Tuff Montegue getötet worden war. Er wollte seine Route nachvollziehen und zur gleichen Tageszeit, zu der Tuff nach Auskunft des Leichenbeschauers zu Tode gekommen war, am Tatort ankommen.
Es war frisch und herbstkühl, denn die Abenddämmerung hatte die Temperatur um zehn Grad fallen lassen. Die Kälte und die letzten Herbstfarben in den Espengehölzen, die den dunklen Nadelwald durchzogen, schärften die Sinne: Alle Geräusche kamen ihm klarer vor, der Blick reichte weiter als sonst, sogar der trockene, scharfe Geruch des Salbeis erschien ihm durchdringender. Vielleicht lag es daran, dass der Wind kurz vor Einbruch der Nacht für gewöhnlich abflaute und die Ruhe alles deutlicher hervortreten ließ.
Er begab sich genau ins Zentrum der Geschehnisse und benutzte sich selbst als Köder. Marybeth wäre das nicht recht.
Das Gras war noch von den vielen Fahrzeugen plattgedrückt, die hier oben gewesen waren, und entsprechend leicht war der Tatort zu finden. Er hielt an und schaltete den Motor aus. Maxine sah ihn eindringlich und mit kaum verhohlener Aufregung an.
»Ja, wir steigen aus«, bestätigte er, »aber du bleibst bei Fuß.«
Sofort begann sie zu zittern. Hunde sind unglaublich leicht zufriedenzustellen, dachte Joe.
Er zog die Jacke an, schwang sich aus dem Pick-up, nahm die großkalibrige Wingmaster-Schrotflinte aus der Gewehrtasche hinterm Sitz, lud sie und schob sich weitere Patronen
in die Tasche. Dann streifte er dicke Hirschlederhandschuhe über, setzte seinen Stetson auf und umrundete den Tatort, der – wie er angenehm überrascht feststellte – sauber hinterlassen worden war. Keine Kippen oder Coladosen im Gras. Die Nase am Boden, untersuchte auch Maxine das Gelände und schwelgte in einem Füllhorn von Gerüchen. Wildlosung, Blut oder sogar die Spuren des Grizzlys mischten sich mit der Witterung, die der Gerichtsmediziner, der Leichenbeschauer oder die vielen Mitarbeiter des Sheriffs hinterlassen hatten, und auch der
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