Kalte Spur
nicht rührselig zu werden, drückte er die Hupe.
Plötzlich sah er, wie sich etwas Helles nah am Boden und eben noch in Reichweite seiner Lichter bewegte. Er setzte sich mit einem Ruck auf und schaltete den Suchscheinwerfer ein. Das Gelände vor ihm tauchte in gleißende Helligkeit, und er erkannte etwas Hundeartiges … doch es war nur ein Kojote, der mit rot reflektierenden Augen kurz stehen blieb und dann den Berg hinablief.
Wieder fluchte er. Etwas stieg in seiner Kehle auf wie ein harter, heißer Klumpen, und er saß im Dunkeln und weinte.
Um zehn Uhr surrte das Handy auf dem Armaturenbrett, und das Display verriet Joe, dass es Marybeth war. Er hatte es vermieden, sie anzurufen.
»Kommst du heute Abend noch nach Hause?«, fragte sie ein wenig verärgert.
»Ich will gerade losfahren und bin in einer Dreiviertelstunde daheim.«
Der Ernst in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. »Joe, alles in Ordnung? Was ist los?«
»Maxine ist weggerannt.« Mit möglichst wenigen Worten berichtete er, was geschehen war.
Beide schwiegen eine Zeit lang.
»Das will ich den Mädchen nicht erzählen.«
»Das müssen wir wohl.«
»Aber erst morgen früh. Sonst heulen sie die ganze Nacht über.«
Joe nickte, obwohl er wusste, dass sie das nicht sah.
»Ach Joe«, sagte sie so, dass er sich schämte, seiner Familie erneut Schmerzen zugefügt zu haben.
»Tut mir leid, Schatz.«
Auf der Rückfahrt aus den Bergen hupte Joe immer wieder. Ob Bud Longbrake ihn unten auf der Ranch hörte? Vermutlich ja. Er rief ihn an, erklärte ihm, warum er so viel Lärm machte, und bat ihn, nach seinem Hund Ausschau zu halten.
»Dein Hund?«, fragte Bud mit aufrichtigem Mitgefühl. »Mensch, das tut mir leid, Joe.«
»Mir auch.«
»Als meine erste Frau mich verließ, hab ich mich kaum halb so schlecht gefühlt wie nach dem Tod meines Hundes.«
Joe wagte es nicht, darauf zu antworten.
Einen halben Kilometer vor der Landstraße blickte Joe in den Spiegel und sah etwas im Schein der Rücklichter.
»Ja!«, rief er und stieg auf die Bremse.
Maxine war erschöpft. Ihr Kopf war gesenkt, und die Zunge hing ihr seitlich aus dem Maul wie ein fettes, rotes Halstuch. Sie brach auf der Schotterpiste buchstäblich zusammen.
Joe ging zu ihr, hob sie auf, vergrub das Gesicht in ihrem Fell und schleppte die fast fünfunddreißig Kilo zu seinem Wagen. Äußere Verletzungen entdeckte er nicht, doch sie zitterte stark. Als er sie auf ihren Sitz legte, sah sie ihn mit ihren tiefen, braunen Augen an. Er schüttete Wasser aus einer Flasche in ihren Napf, doch sie war zu müde, um davon zu trinken.
Fast außer sich vor Erleichterung bog Joe auf die Landstraße und rief Marybeth an, die bei seiner Nachricht in Freudentränen
ausbrach. Er gab auch Bud Bescheid. »Tu das nie, nie wieder oder ich knall dich ab wie einen räudigen Hund«, wandte er sich schließlich an Maxine. Den ersten Teil meinte er ernst, nicht aber den zweiten. Und sie hörte ihn auch gar nicht, denn sie schlief, und ihr Kopf war dort, wo er immer war, wenn Joe fuhr: auf seinem Schoß.
Als er in die Einfahrt bog, stand Marybeth am Fenster und schob den Vorhang beiseite. Das Verandalicht schien ins Führerhaus, und er sah nach, ob Maxine wach war. Er wollte sie nicht unbedingt ein zweites Mal tragen.
In diesem Moment stellte er fest, dass etwas nicht stimmte: Ihr Fell war heller als früher.
Er schaltete die Innenbeleuchtung ein und starrte nur. Was immer sie gesehen oder durchgemacht hatte: Es hatte sie so tief verängstigt, dass ihr Fell weiß geworden war.
»Gut«, sagte er laut. »Genug ist genug. Jetzt werd ich langsam sauer.«
Sheridan und Lucy waren noch wach, obwohl längst Schlafenszeit war, denn Marybeth wollte, dass sie Joe davon erzählten, was auf dem Grundstück der Logues passiert war. Als er ins Haus kam und die Jacke in die Umkleide hängte, sah er seine beiden Töchter mit schuldbewusster Miene im Pyjama am Treppenabsatz stehen. Hinter ihnen trocknete Marybeth sich in der Küche die Hände ab.
»Erzählt es ihm«, sagte sie.
Sheridan seufzte und begann. »Wir haben heute Nachmittag Bockmist gebaut. Wir sind bei den Logues zu diesem Schuppen gegangen. Tut uns leid …«
Er lehnte am Rahmen der Bürotür und ließ sich erzählen, wie die beiden Marybeth getäuscht und sich erneut zu dem
alten Schuppen geschlichen hatten. Seine Tochter beschrieb, was sie dort gesehen hatten: den Schlafsack, Bücher, einen Kocher, viel schimmerndes Besteck auf dunklem Tuch, und
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