Kalte Stille - Kalte Stille
den Park zu rennen. Sie hat eine Scheißangst gehabt, Jan. Das weißt du wahrscheinlich besser als ich.«
Jan sagte nichts. Er sah nur Alexandras verzerrtes Gesicht vor sich, die an ihren Wangen festgefrorenen Speichelfäden und die weit aufgerissenen Augen.
Marenburg, der Jans Schweigen als Zustimmung wertete, nickte bedeutungsvoll. »Irgendjemand in dieser
verfluchten Klinik ist schuld an ihrem Tod gewesen. Darauf gebe ich dir Brief und Siegel, auch wenn ich es nicht beweisen kann.«
6
Seit Tagen hatte es sich angekündigt, jetzt ließ der schiefergraue Novemberhimmel die ersten dicken Schneeflocken dieses Winters auf Fahlenberg fallen. Noch hielt sich der Schnee nicht lange auf dem Asphalt, aber wenn der frostige Wind weiterhin anhielt, würde die Stadt bald unter Schneemassen begraben sein.
Jan hatte das Autoradio aufgedreht und genoss die laute Musik, die die Stille aus der Enge der Kabine vertrieb. Billy Idol verkündete gerade, er tanze mit sich selbst, als Jan auf der Schnellstraße den Stau sah und abbremste. Die Ursache für den Stau ließ sich nicht ausmachen. Vielleicht war ein leichtsinniger Fahrer den Winterbedingungen zum Trotz mit Sommerreifen unterwegs gewesen und ins Schleudern geraten. Erst vor ein paar Minuten hatte der Radiomoderator über die hohe Zahl solcher Unfälle berichtet, die sich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ereigneten, sobald der erste Schnee fiel.
Dann sah Jan einen dicken Mann, der mit wehendem Trenchcoat zwischen den wartenden Fahrzeugen hin und her lief und etwas rief. Jan stellte das Radio ab und ließ die Seitenscheibe herunter.
»Ein Arzt!«, hörte er den Dicken im Trenchcoat rufen, während er bei Jans Vordermann auf das Dach hämmerte.
»Ist hier ein Arzt? Herrgott, wir brauchen einen Arzt!«
Nun sah Jan die Blutflecken auf den Schößen seines Mantels und stieg aus.
»Ich bin Arzt! Was ist los?«
Der Mann im Trenchcoat wirbelte zu Jan herum. Er schien völlig aus dem Häuschen und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Dann stürmte er auf Jan zu, packte seinen Jackenärmel und zog ihn mit sich.
»Kommen Sie! Mein Gott, kommen Sie schnell!«
Jan gelang es, seinen Arm aus dem Griff zu befreien, während er hinter dem Mann die Autoschlange entlangeilte. Mehrere Fahrer reckten neugierig die Köpfe aus ihren Fahrzeugen. Eine Männerstimme rief: »He, was ist denn da vorn los?«, ein anderer fluchte, wann es endlich weitergehe. Ein Stück weiter hinten wurde gehupt.
Der Unfallort befand sich wenige Meter hinter einer Fußgängerbrücke, die den Fahlenberger Stadtkern mit einer Neubausiedlung verband. Ein roter Seat stand dort quer auf der Straße. Als sie sich ihm näherten, stieß eine Frau wenige Meter vor ihnen einen entsetzten Schrei aus, wandte sich um und taumelte an ihnen vorbei.
Der Dicke im Trenchcoat blieb stehen, als traue er sich nicht weiter. Jan blieb ebenfalls stehen. Er sah die verbeulte Motorhaube des Unfallwagens. In der Windschutzscheibe klaffte ein Loch.
Steinewerfer, schoss es ihm durch den Kopf. Irgendein Idiot hat etwas von der Brücke geworfen!
Hinter dem Auto sah Jan einen jungen Mann im dunklen Anzug. Er stand vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und würgte Speichelfäden auf einen Haufen Erbrochenes. Der arme Kerl war ganz
offensichtlich der Fahrer des Seats. Er war unverletzt, also traf Jans Theorie vom Steinewerfer nicht zu.
Jan ließ den Dicken stehen und ging um den Unfallwagen herum. Als er sah, was dort auf der Straße lag, erstarrte er. Er hatte während seines Studiums schon einige schlimme Dinge gesehen, aber bei diesem Anblick blieb ihm fast das Herz stehen. Kein Wunder, dass der Fahrer sich die Seele aus dem Leib kotzte. Jan spürte ebenfalls, wie es ihn würgte.
Ärzte sind auch nur Menschen, hatte einmal ein befreundeter Unfallchirurg zu ihm gesagt. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie gelernt haben, den kleinen Schalter in ihrem Kopf umzulegen, der sie zum Profi macht .
Jan riss sich zusammen und legte den Schalter um. Erst schien er etwas zu klemmen, aber dann klappte es.
»Haben Sie den Notarzt gerufen?«, fuhr er den Mann im Trenchcoat an, der ihn ansah, als hätte Jan ihn auf Japanisch angesprochen. Jan wandte sich an die Schaulustigen, die sich inzwischen versammelt hatten.
»Rufen Sie den Rettungsdienst! Eins, eins, zwei!«
Augenblicklich wurden etliche Handys gezückt, doch nicht alle wurden ans Ohr gehalten. Mit Entsetzen nahm Jan wahr, dass nicht jeder die Absicht
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