Kalte Stille - Kalte Stille
hatte, zu telefonieren - zumindest nicht, ehe man nicht ein paar Fotos gemacht hatte.
Jan näherte sich dem Unfallopfer, das mehrere Meter vom Seat entfernt lag. Eine Frau. Sie musste von der Fußgängerbrücke gesprungen und auf das Auto geprallt sein. Die Brücke war nur wenige Meter hoch, und der Sprung allein hätte ihr wahrscheinlich nur gebrochene Beine eingebracht, aber der Aufprall auf ein fahrendes Auto war verheerend. Daran änderte auch nichts, dass
der Fahrer sofort in die Eisen gestiegen war, wie die tiefschwarzen Bremsspuren bezeugten.
Jan schätzte die Frau auf Mitte zwanzig. Sie musste einige Meter durch die Luft geschleudert worden sein. Ihr zerfetzter Anorak verriet, dass sie danach noch ein weiteres Stück rücklings über die raue Straßenfläche geschlittert war. Der linke Arm, beide Beine und das Rückgrat waren gebrochen, daran ließ ihre verkrümmte Lage keinen Zweifel. Das linke Bein lag verdreht auf dem Asphalt, das rechte stand angewinkelt auf dem Boden, wobei es zwischen Knie und Fuß einen Rechtsknick eingenommen hatte, als befände sich in der Mitte ihres Schienbeins ein weiteres Gelenk. Ihr Rumpf sah aus, als habe ihn eine gewaltige Kraft zu einem menschlichen S verbogen.
Jan trat näher heran. Noch hob und senkte sich der Brustkorb der jungen Frau. Doch als Jan jetzt ihr Gesicht zu sehen bekam, gab er ihr nur noch Minuten, und er hoffte für sie, dass es sehr wenige Minuten sein würden. Das linke Auge war durch das verschobene Jochbein ins Schädelinnere gequetscht worden, während das rechte hektisch umherzuckte. Die Frau schien bei vollem Bewusstsein zu sein.
Jan kniete sich neben die Sterbende und griff vorsichtig ihre rechte Hand. Augenblicklich krampften sich ihre Finger um die seinen. Jan sah auf all das Blut, das aus einer gewaltigen Platzwunde inmitten der Stirn und aus den Überresten der eingedrückten Nase und den Ohren quoll. Die Blutlache berührte bereits seine Schuhe, und das lange dunkle Haar der Frau glänzte wie Seetang in einem tiefroten Meer.
Dennoch war Leben in dieser Frau. Ihr Griff war noch immer fest, und das verbliebene Auge zuckte nach wie
vor umher, als schien es nicht begreifen zu können, was es sah.
»Ruhig«, sagte Jan sanft. »Bleiben Sie ruhig, Hilfe ist unterwegs.«
Natürlich war das ausgemachter Blödsinn. Ebenso hätte er Alles wird gut oder Das wird schon wieder sagen können. Zwar konnte Jan in einiger Entfernung die Martinshörner von Polizei und Notarzt hören, aber er wusste, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sah die Frau ihn plötzlich mit ihrem unversehrten Auge starr an. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Jan.
Wie sie mich ansieht! Wo bleibt nur der verdammte Rettungswagen?
Die Frau gab grässliche Laute von sich und schien mit ihrem Griff Jans Finger brechen zu wollen. Doch als er schon dachte, dies sei ein letztes Aufbäumen vor dem Ende, begannen ihre Arme zu zucken, als wollten sie sich von etwas befreien. Jan glaubte seinen Augen nicht zu trauen, aber die Frau versuchte tatsächlich, sich aufzurichten. Doch mehr als den Kopf anzuheben gelang ihr nicht.
»Nicht bewegen«, sagte er und strich ihr beruhigend über den Kopf. »Bleiben Sie liegen. Es ist gleich vorbei.«
Mit einem gurgelnden Geräusch ließ die Frau den Kopf zurückfallen, wandte sich aber sofort wieder Jan zu. Schneeflocken fielen auf ihr blutverschmiertes Gesicht, und das einzelne Auge stierte Jan mit einem flehentlichen Ausdruck an.
Sie will mir etwas sagen!
Es war unfassbar. Obwohl diese Frau Höllenqualen durchleiden musste und ihr der Unterkiefer wie ein Fremdkörper quer herabhing, so dass ihr das Sprechen
unmöglich war, wollte sie ihm dennoch etwas mitteilen.
Jan hielt sein Ohr dicht an ihr Gesicht. Er spürte ihre warmen Atemstöße und konnte das Gurgeln in ihrer Kehle hören. Mehrmals musste sie ihr Blut schlucken, ehe ihr ein einzelner Laut glückte.
»Gäoh!«
Sie würgte einen weiteren Blutschwall hervor, schluckte und stieß dann noch einmal den seltsamen Laut aus, diesmal länger: »Gääääoooooh!«
Der Laut, der vielleicht ein Wort, vielleicht aber auch nur ein letzter Ausdruck ihrer Schmerzen war, ging in ein Hauchen über.
Jan sah die Frau an und zwang sich zu einem sanften Lächeln. Er wollte ihr etwas Gutes mit auf die letzte Reise geben.
Ihr Blick brach, der Griff um seine Hand erschlaffte, und dann war es endlich vorbei.
7
Den Hinterbliebenen bleibt die Tagesordnung. Dieser Satz kam Jan in
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