Kalte Stille - Kalte Stille
der Thermoskanne auf seinem Schreibtisch. Sie musste noch ungefähr halbvoll sein und enthielt Jans dritte Portion Tee an diesem Tag. Drei Liter Tee - Himmel, ihm kam das Zeug schon zu den Ohren heraus. Wenn sie wenigstens dulden würde, dass er etwas Zucker in die Kanne gab. Nur einen oder zwei Löffel.
Aber nein, das war ja schlecht für die Zähne. Und wir wollen doch kein Gebiss bekommen, das aussieht wie ein Trümmerfeld, Schätzchen.
Missmutig betrachtete er die Kanne und seine Tasse mit dem Alf-Motiv, in der sich noch ein kalter Rest Tee befand.
»Na komm schon, Schätzchen, trink das aus, und ich mache dir noch eine Kanne.«
Sven prustete in die vorgehaltene Hand, und Jan streckte ihm die Zunge heraus.
»Du brauchst viel Flüssigkeit nach dem Schock«, sagte Angelika Forstner, schnappte sich die Kanne und goss den restlichen Inhalt in Jans Tasse. Fast wäre die Tasse übergelaufen, hätte Jan seine Mutter nicht im letzten Moment darauf aufmerksam gemacht und sein Buch in Sicherheit gebracht.
Jan stellte fest, dass auch sie zu Alexandras Fenster hinübergesehen hatte. Wahrscheinlich hatte seine Mutter ebenfalls Marenburgs Umrisse hinter dem Vorhang erkannt. Nun ging sie um den Tisch herum und zog das Rollo herunter.
»Mama?«, sagte Sven. »Weißt du, warum Alexandra geistig verwirrt gewesen ist?«
»Nein, Schatz, das weiß ich nicht.« Angelika Forstner nahm die Metallkanne vom Tisch und betrachtete sie nachdenklich, als sei dort irgendwo eine überaus wichtige Botschaft eingraviert. »Ihr solltet auch nicht euren Vater mit Fragen bedrängen. Auch ihn hat das alles sehr mitgenommen. Denkt jetzt an etwas anderes. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber das Leben muss weitergehen. Was geschehen ist, können wir nicht ändern.«
Als seine Mutter daraufhin zur Tür ging, sah Jan den richtigen Augenblick gekommen, ihr die Frage zu stellen,
die ihm seit seiner Unterhaltung mit dem Vater nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
»Gibt sich Papa die Schuld an Alexandras Tod?«
Angelika Forstner erstarrte in der Tür. Dann wandte sie sich zu den Jungen um, und Jan glaubte, eine Träne auf ihrer Wange zu erkennen. Sie musste schlucken, ehe sie antworten konnte.
»Er glaubt, er hätte es vorhersehen müssen. Niemand gerät einfach so in Panik, hat er gesagt. Als ihr Arzt fühlt er sich verantwortlich. Er ist deswegen sehr …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen sah sie zu Jan und lächelte gequält. Nun war die Träne deutlich zu sehen. »Wir müssen ihm Zeit geben. Es ist für uns alle nicht leicht. Besonders für dich nicht, mein Schatz. Wenn du möchtest, kannst du nächste Woche noch zu Hause bleiben, bis du dich besser fühlst.«
»Das ist ungerecht!«, protestierte Sven. Er sei auch traurig wegen der Sache, also wolle er auch zu Hause bleiben, forderte er. Doch seine Mutter ging nicht darauf ein, sondern schickte ihn ins Bett.
Als Jan wenig später allein in seinem Zimmer war, zog er das Rollo wieder hoch. Noch immer brannte Licht in Alexandras Zimmer. Im Geiste sah Jan seinen Nachbarn, wie er zusammengesunken am Tisch seiner toten Tochter saß und weinte.
Wie es sich wohl anhörte, wenn er weinte? Bestimmt nicht wie Kermit der Frosch. Nun schämte er sich, ihn jemals so genannt zu haben. Für Jan war es schlimm gewesen, Alexandra ertrinken zu sehen, aber wie schlimm musste es erst für einen Vater sein, der sein einziges Kind verlor - noch dazu auf solch schreckliche Weise.
Die Suchmannschaften hatten Stunden gebraucht, um Alexandras Körper zu bergen. Der Weiher hatte zwar
keinen großen Durchmesser, aber er war an manchen Stellen sehr tief. Jan war selbst schon darin getaucht, und er konnte sehr lange die Luft anhalten, aber bis zum Grund hatte er es nie geschafft.
Vor ihm erschien Alexandras Gesicht. Im eisigen Wasser war es fast weiß. Sie sah ihn aus großen Augen an, und ihr Mund war weit aufgerissen wie zu einem endlosen Schrei. Das lange Haar trieb wie schwarze Schlangen um ihren Kopf, und hin und wieder stieg eine silberne Luftblase daraus zur Oberfläche auf …
Jan schüttelte sich. Nie wieder würde er im Weiher schwimmen, geschweige denn darin tauchen. Dort unten hing für immer der tiefgefrorene Schrei einer Toten fest, davon war er überzeugt.
Er blätterte in seinem Buch und versuchte, sich abzulenken, was ihm auch bald darauf gelang.
Dieses Buch war sein liebstes Weihnachtsgeschenk gewesen. Lange genug hatte er darum betteln müssen. Seine Mutter hatte sich vehement
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