Kalte Stille - Kalte Stille
nichts lag ihm ferner. Also hatte Jan das Lernen immer wieder verschoben - so lange, bis die Ferien schließlich vorbei waren und das Lateinbuch noch immer unangerührt in der Schultasche lauerte.
Doch an diesem Freitag waren ihm die Schule und der Lateinunterricht völlig gleichgültig. Was für eine Bedeutung hatte das schon, wenn man am Tag zuvor den Tod eines Menschen miterlebt hatte.
Noch stundenlang hatte Jan am ganzen Leib gezittert, und sein Vater hatte ihm erklärt, dass dieses Zittern von dem Schock herrühre.
Die Auswirkungen des Schocks ließen erst nach, als sich Jan im Laufe des Vormittags mit einem Polizisten über Alexandras Tod unterhalten hatte. Anfangs war Jans Mutter dagegen gewesen, weil sie der Meinung war, Jan brauche zunächst vor allem Ruhe - und außerdem war Jans Vater wieder in der Klinik, als die Polizei bei den Forstners geklingelt hatte. Aber dann war sie bei Jan geblieben, hatte sich neben ihn gesetzt und ihn in den Arm genommen, als Jan von seiner nächtlichen Begegnung im Park berichtete.
Der Polizist war ein netter Mann mit freundlichen Augen gewesen, der Jan erzählte, dass er einen Sohn in seinem Alter habe. Geduldig hörte er sich Jans Schilderungen an, stellte nur hin und wieder eine kurze Frage und ließ Jan so viel Zeit, wie er brauchte, um sich an alles zu erinnern. Danach sagte der Polizist, Jan könne mächtig stolz auf sich sein - immerhin habe er in dieser, wie er es nannte, »prekären Situation« den Kopf behalten und unter Einsatz seines eigenen Lebens versucht, Alexandra zu retten. Damit habe er großen Mut bewiesen.
Jan hatte zwar nicht gewusst, was »prekär« bedeutete, aber von einem Polizisten für seinen Mut gelobt zu
werden, hatte ihm sehr gefallen. Danach hatte er sich wieder besser gefühlt und nicht mehr gezittert, auch wenn ihm sehr wohl klar war, dass all sein Mut nichts an der Tatsache änderte, dass Alexandra im eisigen Wasser des Fahlenberger Weihers ertrunken war.
»Was er jetzt wohl macht?«, wollte Sven wissen.
Jan sah zu seinem kleinen Bruder, der im Schneidersitz auf Jans Bett hockte und die Gelenke seiner He-Man-Figur so verbogen hatte, dass es aussah, als wolle der muskelbepackte Held einen Luftsprung machen.
Sven war eine Frühgeburt gewesen, und noch immer war er kleiner als seine Altersgenossen. Wollte man ihn auf die Palme bringen, musste man ihn nur »Zwerg« nennen, was Jan weidlich ausnutzte. Doch jetzt, unter dem riesigen Nik-Kershaw-Poster, das hinter ihm an der Wand hing - gleich neben Darth Vader, Madonna und Adam Ant -, sah der Sechsjährige mit dem blonden Struwwelkopf tatsächlich wie ein Zwerg aus. Er war bleich und zusammengesunken und sichtlich erschüttert von den Ereignissen.
»Wen meinst du?«
Sven deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Na, Kermit.«
Jan folgte dem Blick seines Bruders und sah zu Marenburgs Haus hinüber. Nur in dem Fenster, das Jans Zimmer gegenüberlag, brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, doch wenn man genau hinsah, konnte man schwach die Silhouette eines Menschen erkennen.
»Er sitzt an ihrem Tisch.«
»Glaubst du, er weint?«
Jan zuckte die Schultern. Er war sich nicht sicher, ob ein Mann wie Marenburg weinte, konnte es sich aber durchaus vorstellen.
»Vielleicht.«
»Warum hat sie das getan?«
Dasselbe hatte Jan seinen Vater gefragt, und so wiederholte er, was dieser ihm geantwortet hatte. »Sie war geistig verwirrt. Da hat sie nicht mehr gewusst, was sie getan hat.«
Jan hoffte, dass es überzeugend klang, auch wenn er selbst nicht mit dieser Erklärung zufrieden war. Aber im Moment war ihm einfach nicht danach, die Fragen seines kleinen Bruders zu beantworten. Am liebsten hätte er jetzt überhaupt nicht gesprochen. Er wollte Sven aber auch nicht aus seinem Zimmer schicken, da es guttat, jemanden in der Nähe zu haben.
»Und warum wird jemand so?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Jan seufzend. Er hätte jetzt gern in seinem Buch weitergelesen. »So etwas musst du Papa fragen, der ist der Experte.«
»Ach der.« Sven verbog seine Figur erneut, und nun sah He-Man aus, als müsse er mal dringend für kleine Helden. »Der ist doch immer am Arbeiten und hat keine Zeit. Oder er sagt, ich sei noch zu klein, um das zu verstehen.«
Jan lag die Bemerkung auf der Zunge, dass ihr Vater damit womöglich Recht hatte. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, kam Angelika Forstner ins Zimmer.
»Na, ihr beiden? Wie geht es euch? Hast du deinen Tee getrunken, Jan?«
Seufzend sah Jan zu
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