Kalte Stille - Kalte Stille
hören konnte, verstand er ihn nicht. Er war jetzt ganz in seinem Gedächtniskino, wo gleich die Vorstellung beginnen würde.
Um ihn herum gingen die Lichter aus, und nur noch der rote Vorhang war zu sehen. Es war ein Samtvorhang. Ein sehr schwerer Samtvorhang. So schwer wie Jans Augenlider. Sie fühlten sich wie aus Blei an, und jeglicher Versuch, sie zu heben, war vergeblich. Aber das war auch nicht wichtig, nur dieser Vorhang vor ihm war noch wichtig. Behäbig glitt er auseinander und gab eine grellweiße Leinwand frei.
Die Leinwand wuchs. Sie wurde größer und größer
und immer noch größer, bis sie Jans gesamtes Gesichtsfeld einnahm. Dann begann sie zu flackern und zeigte ein Bild, das zunächst verschwommen und dann immer deutlicher wurde.
Und dann sah Jan sich selbst. Er war der Hauptdarsteller. Jan Forstner an dem Tag, nach dem nichts mehr so sein sollte wie früher.
9
Rauh hatte sich auf den Stuhl neben Jan gesetzt. Jan hatte die Augen geschlossen und befand sich in tiefer Trance. Entspannt saß er im Sessel, und seine Hände umfassten locker die Armlehnen.
»Welchen Tag haben wir, Jan?«
Wie so oft bei Klienten, die in ihre Kindheit versetzt wurden, klang Forstners Stimme höher als üblich. »Es ist Freitag.«
»Welches Datum haben wir?«
»Den 11. Januar 1985.«
»Wo sind Sie?«
Die Augen noch immer geschlossen, hob Jan verwundert die Brauen. »He, warum sagst du Sie zu mir? So sagt doch sonst keiner.«
»Soll ich lieber du sagen?«
»Klar doch.«
»Also gut, Jan, wo bist du gerade?«
»Na hier. In meinem Zimmer.«
»Und wo genau?«
»An meinem Schreibtisch vor dem Fenster.«
»Ist jemand bei dir?«
»Ja. Sven ist da.«
»Sven ist dein Bruder?«
Jan grinste schelmisch. »Nee, er ist ein Zwerg.«
»Was macht er?«
»Sitzt auf meinem Bett und spielt mit seiner He-Man-Figur.«
»Und was machst du?«
»Ich sitze am Tisch und lese in einem Buch.«
Urplötzlich zuckte Jan zusammen. Seine Finger packten die Lehnen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Rauh war dicht bei ihm, um ihn notfalls sofort zurückzuholen, wenn Jans Erregung eskalieren sollte. Anscheinend war Jan in seiner Erinnerung auf etwas gestoßen, das ihm Angst machte.
»Jan, was ist los mit dir?«
Jan warf den Kopf hin und her.
»O nein«, stöhnte er. »Dieses Buch … dieses Buch!«
»Was ist das für ein Buch, Jan?«
Jan begann zu schluchzen, seine Brust bebte. Rauh konnte erkennen, dass sich Jan gegen diese Erinnerung zur Wehr setzte. Doch die Trance war tief genug, dies zu verhindern. Es dauerte eine Weile, ehe Jan wieder zu Worten fand.
»Das dämliche Buch ist schuld!« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse aus Angst und Abscheu, dann brach er in Tränen aus.
Rauh sprach besänftigend auf ihn ein. Alles sei in Ordnung. Was immer er jetzt auch sehen werde, es sei bereits geschehen. Nichts davon könne ihm noch etwas anhaben.
Allmählich wurde Jan wieder ruhiger. Sein verkrampfter Griff löste sich. Rauh gab ihm Zeit, bis sich seine
Atmung wieder normalisiert hatte, dann fragte er: »Bist du bereit, weiterzumachen?«
»Ja.«
»Du hast ein Buch erwähnt. Warum denkst du, es sei an allem schuld?«
»Weil es mich dazu gebracht hat, wieder in den Park zu gehen.« Jans Stimme war ein Flüstern. Ein Schauer durchlief seinen Körper, dann schrie er: »Hätte ich dieses scheiß Buch nicht gelesen, wäre ich nicht noch einmal in den Park gegangen!«
»Was ist damals im Park geschehen, Jan?«
Wieder brach Jan in Schluchzen aus. »Ich … ich … ich kann nicht.«
»Doch, du kannst. Dir wird nichts passieren, glaub mir.«
Einen Moment zögerte Jan, dann meldete sich die schüchterne Jungenstimme zurück. »Wirklich nicht?«
»Ganz bestimmt nicht. Erzähl mir, was du siehst.«
Jan biss sich auf die Unterlippe und schien zu überlegen. »Also gut.«
Es war das letzte Wochenende der Weihnachtsferien. Am Montag würde die Schule wieder beginnen und der Alltag seinen Lauf nehmen, auch wenn sich Jan an diesem Freitagabend nicht vorstellen konnte, dass es jemals wieder so etwas wie Alltag für ihn geben würde.
Wäre alles wie sonst gewesen, hätte er beim Gedanken an die Schule ein ungutes Gefühl gehabt. Genauer gesagt ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich hätte er während der Ferien Latein büffeln sollen. In allen Fächern kam er gut zurecht, aber Latein war eine einzige Qual. Warum lernte man eine tote Sprache, die zu nichts zu gebrauchen war, es sei denn, man wollte Priester werden
- und
Weitere Kostenlose Bücher