Kalte Stille - Kalte Stille
fernen Ort verschleppt, von dem Sven nicht mehr nach Hause gefunden hatte. Irgendwann hatte Sven womöglich vergessen, wer er war und woher er stammte, und hatte ein anderes Leben gelebt. Vielleicht war er jetzt an einem anderen Ort glücklich und zufrieden und führte ein eigenständiges Leben, ohne zu wissen, dass in der Welt, aus der man ihn vor dreiundzwanzig Jahren herausgerissen hatte, kein Stein auf dem anderen geblieben war.
Oder was, wenn Sven sich zwar noch an seine Familie und an Fahlenberg erinnerte, aber absichtlich nicht zurückkehrte - aus Bitterkeit, weil er sich damals im Stich gelassen vorgekommen war?
So verrückt diese Theorien auch sein mochten, man
musste sie ebenso in Betracht ziehen wie die von Svens Tod. Ein weggeworfenes Wäschestück allein war noch kein Beweis für einen Mord. Sicher, dieser Fund und die Tatsache, dass man keine weiteren Spuren des Jungen gefunden hatte, legten diese Vermutung nahe, aber Gewissheit gab es nicht.
Dass Sven noch lebte und irgendwo ein normales, glückliches Leben führte, war eine großartige Vorstellung, der sich Jan gern hingegeben hätte. Andererseits wusste er, dass dies nichts als Wunschdenken war. Die gefundene Unterwäsche legte jedenfalls etwas anderes nahe. Man hatte sie erst Tage nach Svens Verschwinden gefunden, und Jan war sich sehr wohl bewusst, dass es besser war, zu hoffen, sein Bruder sei schnell und ohne Schmerzen aus dieser Welt geschieden.
Der Stoff war zerrissen gewesen. Sven hatte die Hose nicht einfach nur abgestreift. Alles hatte darauf hingedeutet, dass man sie ihm vom Leib gerissen hatte. Und was, wenn nicht das Schlimmste, hätte man vermuten sollen, wenn man im tiefsten Winter die zerrissene Unterwäsche eines vermissten Sechsjährigen fand?
Vor einigen Jahren war Jan bei seinen Recherchen auf eine Geschichte gestoßen, die ihn seither nicht mehr losließ. In England war ein Junge von einem Pädophilen entführt worden. Der Mann war Chirurg in einer angesehenen Londoner Klinik, und er hatte sein Opfer lobotomisiert. Dazu hatte er dem Kind eine feine Nadel durch den Tränenkanal ins Hirn gestoßen und Teile des Frontallappens zerstört, so dass der Junge zu einem willenlosen Schatten seiner selbst geworden war. In diesem Zustand hatte der Mann sein Opfer über viele Jahre in seinem Haus gefangen gehalten und missbraucht. Erst als der Junge im Alter von sechzehn Jahren an einer
Hirnembolie gestorben war und sich der Chirurg der Leiche entledigen wollte, war man ihm auf die Spur gekommen.
Der Autor des Artikels hatte die Vermutung angestellt, dass es sich um keinen Einzelfall gehandelt hatte. Immer wieder würden Pädophile gefasst, die den Willen ihrer Opfer gebrochen hatten, um sie fortan wie menschliche Spielzeuge zu benutzen. Deshalb war es besser, wenn sich Jan keinen falschen Wunschträumen hingab - ganz gleich, was dieser irrationale Teil seines Verstandes sich auch wünschen mochte. Denn dieser Teil blendete mit krampfhafter Naivität eine Erkenntnis aus, die sein übriger Verstand längst als gegebene Tatsache zu akzeptieren gelernt hatte: Das Gute siegt vielleicht im Märchen, in Hollywoodfilmen und in Romanen, aber die wirkliche Welt ist der Spielplatz des Bösen.
Jan schlurfte ins Badezimmer, nahm eine heiße Dusche und versuchte, das Gefühlschaos in seinem Kopf zu ordnen.
denk an eins …
schenke nie Gerüchten Glauben …
Nein, das waren nicht Svens Worte gewesen. Es waren Jans eigene Gedanken gewesen. Und sie hatten ihm nichts anderes als die Wahrheit gesagt: Hör auf, das Unmögliche zu hoffen!
Als Jan wenig später die Küche betrat, empfingen ihn die gurgelnden Geräusche der Kaffeemaschine. Marenburg saß am Küchentisch und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Im Licht der Küchenlampe sah er eigenartig fahl aus, so als säße eine Wachsfigur dort. Jan dachte kurz, auch Marenburg habe vielleicht eine schlechte Nacht hinter sich.
Hoffentlich habe ich heute Nacht nicht im Traum geschrien und ihn aufgeweckt .
»Guten Morgen. Alles in Ordnung mit dir?«
Marenburg reagierte nicht. Sein Geist schien irgendwo da draußen, jenseits des Fensters unterwegs zu sein.
Irgendetwas stimmte nicht. Die Kaffeemaschine gab einen rülpsenden Laut von sich, und als Jan genauer hinsah, erschrak er. Aus dem Filter tropfte klares Wasser in die Glaskanne. Marenburg hatte das Kaffeepulver vergessen.
»He, Rudi, was ist los mit dir?«
Marenburg legte eine Hand über die Augen, und erst jetzt wurde Jan klar, dass
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