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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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die Maske beiseite.
    Er stand vor ihr, das Gesicht in den Händen vergraben, und schluchzte.
    Einen Mann weinen zu sehen hatte für Dunja etwas Herzzerreißendes. Normalerweise neigten die Männer eher zu Gewalttätigkeiten, tobten oder schrien oder schlugen. Wenn Männer weinten, litten sie unter besonders schlimmen Qualen. Erst recht, wenn sie vor einer Frau in Tränen ausbrachen.
    Ihn so zu sehen, machte ihr das Herz schwer. Sie mochte ihn. Er war anders als die anderen. Er beschimpfte sie nicht oder bezeichnete sie als »Fickstück« oder »geiles Luder« wie die meisten anderen Kerle. Im Gegenteil, er machte Dunja zu jemand Besonderem - in erster Linie natürlich für sich selbst, aber auf eine gewisse Weise auch für sie.

    »Willst du mir von ihr erzählen?«
    Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
    Sie beobachtete ihn, wie er sich wieder anzog. Es war so ein trauriger Anblick. Er legte sein Geld auf ihren Schminktisch und dazu ein Beutelchen Koks. Seine übliche Dreingabe, damit sie auch wirklich niemandem von ihm erzählte. Dabei wusste sie beim besten Willen nicht, wem sie von dem großen Unbekannten hätte erzählen sollen.
    »Man kann mit mir auch reden, nicht nur ficken«, versuchte sie ihn zu ermuntern. »Ich kann zuhören, und wir haben noch Zeit.«
    »Halt den Mund!«
    Er packte einen ihrer Parfümflakons, wirbelte zu ihr herum und schmetterte das Fläschchen hinter ihr an die Wand. Süßlich schwerer Blumengeruch erfüllte den Raum.
    Dann ging er und knallte hinter sich die Tür ins Schloss.
    Dunja sah ihm verwundert nach. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
    »Dann eben nicht.«
    Seufzend betrachtete sie die Scherben. Sie war ihm zu nahe gekommen, und das mochte er wohl nicht. Auch gut. Mehr als sich anbieten konnte sie nicht. Das Parfüm konnte sie verschmerzen. Allein sein Stoff war mehr wert als das Fläschchen.
    Und wer weiß, dachte sie, vielleicht spricht er ja beim nächsten Mal von ihr.
    Irgendwann erzählten sie alle ihre Geheimnisse. Früher oder später.

16
    Jan erwachte am Mittwochmorgen noch vor dem Klingeln des Weckers und fühlte sich, als habe er die Nacht in einer Zentrifuge verbracht. Noch immer wirbelten ihm die als Traum getarnten Erinnerungen und Gedanken durch den Kopf und kamen erst ganz allmählich zur Ruhe.
    Wenn du weiter nach mir suchen willst …
    denk an eins …
    schenke nie Gerüchten Glauben …
    Ein Gefühl der Beklemmung schien ihm mit unsichtbarer Hand die Kehle zuzudrücken. Die Begegnung mit Sven - einem erwachsenen Sven, von dem nur noch die Augen an den sechsjährigen Jungen von einst erinnert hatten - hatte ihn zutiefst erschreckt.
    Es war nur ein Traum, rief sich Jan ins Bewusstsein. Der erwachsene Sven war nicht mehr gewesen als das Resultat psychischer Aktivitäten während des Schlafs. Träume sind Geschehnisse, die wir ausschließlich in der Welt unserer Gedanken durchleben. Sie sind die Aufarbeitung von vergangenen Erlebnissen im Zusammenspiel mit Spekulationen und Wunschdenken. Das waren die Definitionen, die Jan während seines Studiums gelernt hatte. Ebenso wie er gelernt hatte, dass Träume meist irreal und von Symbolik durchwoben sind. Es lag sozusagen in der Natur des Träumens, dass dabei jedwede kognitive Gesetzmäßigkeit außer Kraft gesetzt werden kann. Deswegen hatte Sven älter werden und sich wieder mit Jan unterhalten können.
    Trotzdem wollte sich ein Teil von Jans Verstand nicht damit zufriedengeben und versuchte, sich über die rationalen Weisheiten der Psychologie hinwegzusetzen.

    Was wäre, wenn dieser Sven mehr als nur das Ergebnis von Erinnerungen und Wunschdenken gewesen ist, meinte der irrationale Teil in Jans Verstand. Was ist, wenn ich vorhin nicht Svens imaginären Geist, sondern seinem wahren Ich begegnet bin? Was, wenn wir über weite Distanz auf telepathische Weise miteinander kommuniziert haben, so wie es in diesem Buch stand, das mich damals dazu gebracht hat, in den Park zu gehen?
    Jan spürte Tränen in sich aufsteigen. Meist gelang es ihm, die eine quälende Frage zu unterdrücken, doch nun, nach diesem merkwürdigen Traum, war er ihr schutzlos ausgeliefert. Dabei war diese Frage ebenso naheliegend wie die, wie und wo Sven damals gestorben war, ob er dabei große Schmerzen gehabt hatte und was das letzte Bild gewesen sein mochte, das sein kleiner Bruder am Ende seines viel zu kurzen Lebens gesehen hatte.
    Was, wenn Sven gar nicht tot war? Vielleicht hatte ihn sein Entführer am Leben gelassen und ihn an irgendeinen

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