Kalte Stille - Kalte Stille
er geweint hatte.
»Rudi, um Gottes willen, was ist denn?«
Marenburg schob Jan die Tageszeitung über die Tischplatte zu. Jan drehte sie, so dass er die Schlagzeilen des Regionalteils lesen konnte.
Marenburg gehörte zu den Leuten, die die Zeitung von hinten lasen. Wie die meisten Menschen seines Alters begann er bei den Todesanzeigen, las sich dann durch den Sportteil, ehe er zu den übrigen Neuigkeiten aus der Region überging. Die Weltpolitik musste bis ganz zum Schluss warten, da man das meiste davon ohnehin schon aus den Nachrichtensendungen des Vorabends wusste.
Jan überflog die Schlagzeilen des Regionalteils, den Marenburg aufgeschlagen hatte. FAHLENBERGER FORSCHER ENTDECKT RIESENKALMAR VOR NEUSEE-LANDS KÜSTE meldete der Leitartikel, dessen Verfasserin, Carla Weller, den nun berühmten Sohn der Stadt vor Ort interviewt hatte.
Jan glaubte nicht, dass die Entdeckung eines gigantischen Kraken Marenburgs Zustand verursacht hatte,
ebenso wenig die geplante Erweiterung der Umgehungsstraße oder die Rekorderlöse der diesjährigen Rotariertombola.
Doch dann entdeckte er die Meldung. Unter der Überschrift TRAGISCHER SELBSTMORD wurde über die junge Frau berichtet, die am Vortag von der Fußgängerbrücke gesprungen war. Augenblicklich glaubte er wieder zu hören, wie die Sterbende zu sprechen versuchte.
Gääooohhh .
Marenburg fuhr sich mit dem Hemdsärmel übers Gesicht und sah Jan an. In seinem tränenverschleierten Blick stand Fassungslosigkeit.
»Schau bei den Todesanzeigen nach.« Marenburgs Stimme war belegt und zittrig.
Jan blätterte zur vorletzten Seite. Sofort sah er, was Marenburg meinte. Inmitten schwarz umrandeter Anzeigen mit Kreuzen, Tauben und Dürers betenden Händen war ein kurzer Text zu lesen.
In der Blüte deines Lebens
bist du von uns gegangen.
Wir trauern um unsere liebe Kollegin
NATHALIE KÖPPLER.
Wir werden sie immer in Erinnerung behalten.
Das Team der Fahlenberger Stadtverwaltung
Für Jan bestand kein Zweifel daran, dass es sich bei Nathalie Köppler um die junge Frau von der Brücke handelte. Der Artikel hatte ebenfalls von einer »jungen Stadtangestellten« gesprochen.
Doch erst jetzt begriff Jan, was Marenburg so erschüttert hatte - das Foto neben dem Text. Jan stockte der
Atem. Als er das Gesicht der Frau sah und das Lächeln, das sie dem Fotografen schenkte, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen.
»Die Ähnlichkeit ist verblüffend, nicht wahr?«, flüsterte Marenburg, als wage er es nicht laut auszusprechen.
Jan brachte nur ein Nicken zustande. Die Ähnlichkeit war mehr als verblüffend. Wäre es nicht ganz unmöglich gewesen, Jan hätte Stein und Bein geschworen, das Foto zeige Alexandra Marenburg. Das gleiche ovale Gesicht, die gleichen breiten Wangenknochen, die gleichen dunklen langen Haare und die gleiche Andeutung eines Lächelns wie auf dem Foto von Alexandra, das in Marenburgs Wohnzimmer stand.
Vor allem dieses Lächeln, das eigentlich keines war, sondern nur der Versuch, ein ernstes und verängstigtes Gesicht vor dem Fotografen zu verbergen, hatte Jan bisher für einzigartig gehalten.
Mit einem Stöhnen erhob sich Marenburg und schob dabei den Stuhl zurück. Das Quietschen der Stuhlbeine auf dem PVC-Boden klang in Jans Ohren wie ein heiseres Krächzen - Gäääooooh . Es ließ ihn zusammenfahren.
»Ich muss an die frische Luft«, murmelte Marenburg und ging zur Tür. Er verharrte einen Moment und sah sich um. »Glaubst du an Zufälle, Jan?«
Jan war noch immer zu verdutzt, um antworten zu können. Das Bewusstsein, dass sich Alexandra und diese Nathalie Köppler nicht nur zum Verwechseln ähnlich sahen, sondern auch beide vor seinen Augen gestorben waren, schnürte ihm die Kehle zu. Wenn dies alles nur ein Zufall war, dann war es der makaberste, der ihm je untergekommen war.
» Ich glaube nicht daran«, sagte Marenburg und ging aus der Küche.
Als wenig später die Haustür zugezogen wurde und Jan durch das Küchenfenster einen gebeugten Rudolf Marenburg sah, der im Zwielicht der winterlichen Morgendämmerung verschwand, fragte er sich, ob sein Freund vielleicht Recht hatte.
Vielleicht glauben wir ja nur deshalb an Zufälle, weil wir den Gedanken an die Alternative nicht ertragen können.
17
»Ah, der Neue!«
Hieronymus Liebwerk saß an seinem Schreibtisch und kaute an einem Stück Vollkornbrot. Als er Jan angrinste, waren seine nikotingelben Zähne mit Senf, Leberwurst und Brotkrümeln verschmiert.
»Ich habe Ihnen etwas
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