Kalte Stille - Kalte Stille
ich werde meine Beziehungen spielen lassen wegen Ihres Bruders. Dann hätten Sie Gewissheit, ob er wirklich einem wie mir in die Hände gefallen ist. Was halten Sie davon?«
Jan hatte mit seiner Antwort gezögert. Nur einen winzigen Augenblick, aber doch lange genug, um Laszinski ein diabolisches Grinsen zu entlocken. In diesem winzigen Augenblick hatte Laszinski Macht über ihn gehabt. Er hatte die offene Wunde in Jans Seele gefunden, und mit seinem Grinsen hatte er genüsslich Salz in diese Wunde gestreut.
Deswegen hatte Jan zugeschlagen. Nicht aus Wut auf einen Perversen, der den Tod eines kleinen Mädchens
und die schweren seelischen Schäden ihrer Schwester zu verantworten hatte - nein, es war die Wut auf sich selbst gewesen. Auf seine Suche nach der Wahrheit, die zu einer Obsession ausgeartet war, und auf seine Unfähigkeit, davon loszukommen.
In Laszinskis Grinsen hatte Jan seine eigene Besessenheit widergespiegelt gesehen. Seine verzweifelte Hoffnung, jemand könne ihm erklären, was aus Sven geworden war - eine Hoffnung, die einer schweren Sucht gleichkam.
Für Sekundenbruchteile hatte Jan Laszinski glauben wollen. Ja, er wäre bereit gewesen, ihm eines von Martinas Höschen in die Zelle zu schmuggeln. Genauso wie er Alfred hatte glauben wollen, als dieser ihm von den Unterirdischen erzählt hatte.
Du bist ein naiver Idiot, der nach jedem Köder schnappt.
Das Klingeln der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Jan trank noch einen Schluck Bier und ging dann auf den Flur. Er steckte das Diktiergerät in seine Jacke zurück und machte die Tür auf.
Ralf Steffens stand draußen, bleich wie immer, zusammen mit einer Frau, deren Gesicht im Schatten der Kapuze nicht zu erkennen war.
»Guten Abend, Dr. Forstner. Ich weiß, Sie hatten heute einen schweren Tag, aber können wir trotzdem reden?«
Jan fiel erst jetzt die Verabredung wieder ein. Ihm war nicht im Geringsten nach einem Gespräch mit dem Pfleger zumute, aber versprochen war versprochen.
»Kommen Sie herein«, sagte er und trat zurück.
Die Frau streifte sich die Kapuze ihres Anoraks vom
Kopf und sah Jan im Vorbeigehen auf merkwürdig vertraute Weise an.
»Hallo, Jan.«
Jan schloss die Tür und musterte die Frau. Sie kam ihm bekannt vor, und doch auch wieder nicht.
»Kennen wir uns?«
Sie strich sich die Lockenmähne zurück, die ihr die Kapuze verstrubbelt hatte. »Ich bin Carla Weller.«
Jan runzelte die Stirn. »Carla Weller, hm. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern.«
Lächelnd betrachtete sie den hölzernen Nachtwächter auf Marenburgs Garderobentisch und fuhr mit der Fingerspitze über den leicht verstaubten Kopf der Statue.
»Hätte mich auch gewundert. Aber vielleicht sagt dir ›Steigbügel‹ noch etwas?«
»Steigbügel?«
»Ja, ist schon’ne Weile her. Ich geb dir noch zwei Stichworte: Gymnasium, Schulhof.«
Augenblicklich lief Jan rot an. Herrgott ja, das sagte ihm sehr wohl etwas. Ihm fiel das Mädchen wieder ein, das am Zaun zum Pausenhof des Gymnasiums gestanden und Jan und seine Freunde beobachtet hatte. Sie konnte kaum älter als zehn und Jan musste damals zwölf gewesen sein.
Es war der Sommer vor Svens Verschwinden gewesen. In fast jeder Vormittagspause hatte die Kleine am Zaun gestanden und Jan nicht aus den Augen gelassen. Sie war alles andere als eine Schönheit gewesen. Die dunklen, lockigen Haare trug sie zu einer unförmigen Frisur zusammengebunden. Sie erinnerten Jan an die Stahlwolle, mit der seine Mutter Angebranntes aus Töpfen schrubbte.
Außerdem war sie viel zu mager. Und sie trug eine
Zahnspange mit einem metallenen Außenbügel, der mit Gummiringen an einer Nackenhalterung befestigt war. Diese Zahnspange hatte Jan gemeint, als er eines Tages zu ihr gegangen war - genervt von der ständigen Beobachtung, über die seine Freunde schon Witze rissen - und sie ansprach.
»Was willst du eigentlich von mir, Steigbügel?«
Daraufhin hatte das Mädchen »Arschloch!« gezischt und war weggelaufen.
»Na, ist der Groschen gefallen?«
Carla musterte ihn eingehend.
»Ähm, ja«, sagte Jan und räusperte sich. »Denke schon. Muss dich ja damals schwer beschäftigt haben, wenn du dich heute noch daran erinnerst.«
»Ja, das hat es. Aber es beruhigt mich, dass du dich auch noch daran erinnerst.«
»Gilt es noch, wenn ich mich jetzt dafür entschuldige?«
»Klar.« Carla nickte zufrieden. »Schwamm drüber. Wo können wir reden?«
Noch ganz perplex, zeigte Jan auf die Küchentür.
Die beiden
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