Kalte Stille - Kalte Stille
Brust und versuchte noch immer, den auf und ab zuckenden Kopf zu halten. Ein weißer Schatten huschte an ihm vorbei. Jemand schob eine Wolldecke unter Alfreds Kopf. Jan sah, dass es Andrea Kunert war.
Gleich darauf bäumte sich Alfreds Körper wieder auf - stärker als zuvor - und verharrte kurz in dieser Position. Jan begriff, was gleich geschehen würde, und ließ von ihm ab. Alfred stieß einen gurgelnden Laut aus und sackte wieder zu Boden. Er erschlaffte.
»Herzstillstand!«
Im Nachhinein hätte Jan nicht sagen können, wer dieses Wort gerufen hatte. Er glaubte, es sei Andrea Kunert gewesen, aber er hätte nicht darauf schwören wollen.
Er erinnerte sich noch an die Reanimierungsversuche und daran, dass ihm Andrea Kunert dabei half. Er erinnerte sich an den säuerlichen Atem aus ihrem Mund, und ihm war der Gedanke gekommen, dass sie sich wahrscheinlich übergeben hatte, nachdem sie aus dem Stationszimmer gerannt war.
Als zwei endlose Minuten später der Notarzt eingetroffen war, war es Jan und seiner Kollegin gelungen, Alfred Wagner in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Zumindest galt das für seinen Körper. Sein Herz hatte wieder zu schlagen begonnen, und auch die Atmung hatte wieder eingesetzt.
Nachdem man Alfred abtransportiert hatte, ließ sich Jan in einen der Drehstühle des Stationszimmers sinken. Sein Herz raste, und der durchgeschwitzte Pullover klebte ihm am Leib. Konni und Ralf erkundigten sich, ob sie etwas für ihn tun könnten. Als Jan ohne ein Wort abwinkte, gingen sie hinaus und ließen ihn mit Andrea Kunert allein.
Schweigend saßen sie sich gegenüber. Dann erhob sich die Ärztin und zog sich mit einer unsicheren Geste den Kittel zurecht.
»Danke«, sagte sie. »Das war sehr mutig von Ihnen.«
Jan nickte erschöpft, und Andrea Kunert verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
26
Jan war kaum zu Hause angekommen, als ihn ein derartiger Heißhunger überfiel, dass er am liebsten in Winterjacke und Schuhen zum Kühlschrank gelaufen wäre. Marenburg war nicht da und hatte auch keinen Zettel auf dem Tisch hinterlassen, wie er es sonst zu tun pflegte.
Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, räumte Jan den Inhalt des Kühlschranks auf den Küchentisch, schnitt sich einige Scheiben von einem Laib Graubrot ab und begann zu essen.
Während er Wurst, Käse und Gewürzgurken in sich hineinstopfte, fühlte sich sein Kopf wie leergefegt an. Das war gut so. Wie es schien, hatte Jans Gehirn zum ersten Mal seit Ewigkeiten ein Einsehen mit ihm. Es hatte auf Sendepause geschaltet und es dem Rest des Körpers überlassen, seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Nachdem die Fressattacke vorüber war und Jan den dezimierten Vorrat an Essbarem in den Kühlschrank zurückgeräumt hatte, ging er ins Badezimmer im ersten Stock. Er ließ Wasser in die Wanne ein, legte sich hinein und starrte mit leerem Blick auf die cremefarbene Kachelwand.
Diese Fliesen müssen in den späten Sechzigern der letzte Schrei gewesen sein, war das Einzige, woran er in der nächsten halben Stunde dachte.
Nach dem Bad fühlte er sich besser. Er setzte sich mit einem Bier in die Küche und legte das Diktiergerät aus seiner Jacke vor sich auf den Tisch. Im Licht der Küchenleuchte wirkte das abgegriffene Metallgehäuse stumpf. In den Vertiefungen der Tasten, wo sich die einstmals weißen Symbole für Start, Aufnahme, Vor- und Rücklauf
befunden hatten, hatten sich graue Schmutzspuren angesammelt. Start- und Rücklaufsymbol waren gänzlich abgerieben.
Jan drückte die Starttaste und schaltete sofort wieder aus.
Ich hab sogar mal deinen toten Bruder gehört.
Das war die Stimme von Alfred Wagner. Jan hörte sie so klar und deutlich wie ein Echo in seinem Kopf.
Er gehört jetzt zu den Unterirdischen.
»Ein Wahnkonstrukt, weiter nichts«, murmelte Jan dem Gerät zu.
Alfred musste sich das zusammengesponnen haben. Selbstverständlich hatte er von Svens Verschwinden gewusst. Jeder, der damals in Fahlenberg gelebt hatte, wusste davon. Wahrscheinlich hatte er sich nun wieder daran erinnert, als sie sich begegnet waren. Vielleicht hatte er es auch nie vergessen.
Andererseits …
Unterirdischer?
Was, zum Teufel, konnte er nur damit gemeint haben? War Sven damals von seinem Mörder verscharrt worden? Hatte der verrückte Kerl womöglich etwas beobachtet? Oder war er es am Ende selbst gewesen?
Alfred war genauso alt wie Jan, also war er damals zwölf gewesen. Und in starkem Maße »verhaltensauffällig«. Einem Jungen, der
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