Kalteis
an der Straßenecke stehen. Wartet, bis die beiden eingestiegen sind, dann läuft sie das ganze Stück zu Fuß zum Soller im Tal zurück. Zuerst laufen ihr noch die Tränen über die Wangen, aber die sind schnell getrocknet. Sie läuft und läuft. Durch Straßen, vorbei an Häusern, sie kann sich nicht erinnern. Auch nicht, wie lange sie läuft. Nur daran, dass irgendwann der Trotz langsam in ihr hochsteigt und der es auch ist, der die Tränen endlich trocknen lässt. Unterkriegen lassen will sie sich nicht. Ist sie doch hier in München, in der Stadt, um ihr Glück zu machen. Und das Glück, das würde sie schon machen. Da ist sie sich sicher. Ist sie doch ein hübsches Mädchen. Jeder kann das sehen. Sie selbst kann es sehen, wenn sie an den Schaufenstern vorbeigeht. Ihr Glück wird sie machen, da ist sie sich sicher. Ihr Glück.
*
Bereits nach Mitternacht ist es, als die beiden Motorradfahrer beim Soller im Tal ankommen. In der Früh sind sie von Nürnberg mit der NSU losgefahren. München anschauen, auf die Wiesn gehen, unterwegs anhalten, Brotzeit machen, einen schönen Tag haben. Wäre die Kette nicht vor Ingolstadt gerissen, hätten sie bereits am Nachmittag in München sein müssen. So aber schoben die zwei die Maschine zur nächsten Werkstatt, und als sie endlich doch noch in München ankommen, ist es bereits dunkel. So fahren sie gleich hinaus zur Wiesn, stellen die Maschine unter und bleiben bis spät in die Nacht. Als sie das Motorrad wieder abholen, erkundigen sie sich beim Parkplatzwärter nach einem Gasthaus, einer Unterkunft. Der nennt ihnen den Soller im Tal.
Beim Soller fragen sie die Gretel, die Bedienung, nach einem Zimmer. Zwei Einzelzimmer brauchten sie ja nicht, sie würden sich das Zimmer schon teilen und zur Not auch das Bett. Hauptsache, sie hätten einen Platz. Ja, und das Motorrad müssten sie auch noch unterstellen können. Ob beim Soller denn eine Garage oder ein Schuppen wäre, in dem man die NSU einsperren könnte?
»Ein Zimmer für die Nacht suchts?«, hat die Gretel sie gefragt. Anspruchsvoll seien sie nicht, es soll ja auch nur für diese eine Nacht sein. Ein Zimmer ist schon frei. Das Bett würde aber zwei Mark die Nacht kosten. Für jeden. Die beiden sind einverstanden und lassen sich den Schuppen für das Motorrad zeigen, in der Gaststube bestellen sie sich bei der Gretel noch eine Halbe. Beim Bier erzählt der eine dem Freund von dem Mädchen. Das ihn angesprochen hätte. Gerade eben, als der Freund das Motorrad unterstellte. Gleich draußen vor dem Gastzimmer. Gefragt hat sie ihn, ob es ihm denn recht sei, wenn sie bei ihnen, seinem Freund und ihm, im Zimmer übernachten würde. Sie hätte keinen Platz zum Schlafen, und die Gretel, die hätte sie doch sicher schon danach gefragt. So verblüfft ist er. Was hätte er sagen sollen? Und eine Hübsche sei sie auch noch. Da wollte er nicht nein sagen. Der Freund, der soll nur ganz unauffällig in Richtung Toiletten schauen. Da könnte er sie dann schon sehen. Es ist die mit dem blauen Kleid. Am Tisch neben dem Blonden.
Nein, in der anderen Richtung, drei, nein vier Tische weiter. Die mit dem dunkeln Zopf ist es, ob er sie denn nun gesehen hätte. Das Mädchen mit dem dunkeln Zopf blickt zu ihnen herüber. Sie sitzt zwischen dem Blonden und einer jungen Frau mit hellem Mantel und kleinem dunklen Hut auf dem Kopf. Prostet ihnen zu und lacht. Als sie kurze Zeit später am Tisch der beiden Motorradfahrer vorbeigeht, hat der Fahrer den Eindruck, sie würde ihm zuzwinkern. Die Ausrede, er müsste noch mal nach draußen, »nachsehen«, ist das Einzige, was ihm in diesem Augenblick einfällt, und so folgt er dem Mädchen vor die Tür. Gleich draußen, hinter der Tür, wartet sie schon auf ihn. Ob es ihm denn recht sei, wenn sie im Zimmer bei ihm und seinem Freund übernachten würde. Hätte sie doch keine Bleibe für die Nacht.
Ja, ja, der Freund hatte es ihm schon erzählt. Wenn sie möchte, könnte sie schon bei ihnen im Zimmer schlafen. Dabei sieht er in ihr Gesicht, sieht die dunklen Augen, sieht die Haare, aus der Stirn gekämmt, zu einem Zopf geflochten. Der Freund hat Recht, es ist ein hübsches Mädchen, sie gefällt ihm. Um sie nicht immer nur anstarren zu müssen, fragt er sie, woher sie denn komme und was sie in München mache? Die Antwort ist ihm gleichgültig, will er das Mädchen doch nur noch eine Weile bei sich hier vor der Gaststube haben. Mit ihr reden über Belanglosigkeiten, nur noch nicht
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