Kalteis
will versuchen, einen Botenjungen zu finden, der Kathie den Brief bringt.
An Stelle des Chauffeurs ist der Blonde ins Lokal zum Soller gekommen. Setzt sich an den Tisch zur Kathie. Fragt sie, ob er sie einladen kann auf eine Suppe. Kathie lehnt ab, zögert. Hofft doch noch immer, dass der Chauffeur hereinkommen würde. Schließlich lässt sie sich überreden. Ist doch der Hunger im Laufe des Abends immer größer geworden. Und später, viel später an diesem Abend, geht sie mit dem Blonden auf ein Zimmer beim Soller. Wo hätte sie sonst auch hingehen sollen. Zur gleichen Zeit legt sich der Chauffeur zu Hause zu seiner Frau ins Bett. Sein Janker hängt bereits wieder im Schrank. Mit dem Brief an das Mädchen in der Jackentasche.
Am Sonntag in der Früh, gleich nach dem Aufstehen, fährt Kathie hinaus zum Giesingerbahnhof. Eilig hat sie es, will sie doch keinen der Züge versäumen. Gleich hinter den Drehkreuzen steht sie. Von dort kann sie alle Reisenden sehen, niemand soll ungesehen an ihr vorbei. Sie wartet dort auf den Chauffeur, dass er kommen würde. Jeden Zug, der aus Perlach herein in den Giesingerbahnhof fährt, wartet sie ab. Bei jedem hofft sie, er würde aussteigen. Hofft wie gestern, als sie beim Soller die Tür den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen hat. Bei jedem Zug, der in den Bahnhof einfährt, malt sie sich aufs Neue aus, wie er aus dem Waggon aussteigt. Der Chauffeur. In ihren Gedanken trägt er den Janker. Sie sieht ihn aussteigen. Sieht sich selbst, wie sie nach ihm ruft. Er würde sich zu ihr umdrehen, sie erkennen. Auf sie zulaufen, sie umarmen. Spüren kann sie, wie er sie umarmen würde. Nur die Augen muss sie schließen und schon merkt sie, wie er seine Arme um sie legt, selbst seinen Atem glaubt sie zu spüren. Fühlt sie doch einen leichten Hauch auf ihren Wangen, einen Luftzug.
»Kathie. Was machst du denn hier?« Eine Stimme reißt sie aus ihren Träumen. Erschrocken dreht sie sich um. Wünscht, hofft, dass es seine Stimme ist. Dass er es endlich ist. Die Stimme ist der seinen so ähnlich und dennoch weiß sie, ohne die Person zu sehen, dass er es nicht sein kann. Spürt die Enttäuschung schon, noch während sie sich umdreht, noch ehe sie den Fragenden sieht. Ein Bekannter aus Wolnzach. Was sie in München macht, will er wissen, ob sie schon Arbeit gefunden hat und die ganze Leier. Mit ihren Gedanken ist sie weit weg. Die Augen suchend auf die vorbeilaufenden Reisenden gerichtet. Hat keine Zeit, sich mit ihm zu unterhalten. Sich anzuhören, dass er seine Schwester im Krankenhaus besuchen will und so weiter. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Er redet und redet. Sie versucht, den einfahrenden Zug nicht aus den Augen zu verlieren. Sieht sich die Leute an, die an ihr vorbeilaufen. Hört kaum zu, als er sich von ihr verabschiedet. Da sie es doch mittlerweile nicht mehr aushalten kann, das Warten. Selbst rausfahren ins Blockhaus nach Waldperlach will sie. Aber was, wenn er nach München hereinfährt zur gleichen Zeit? Unschlüssig ist sie. Und was soll sie da draußen machen? Hatte er ihr doch erzählt, das Blockhaus gehöre nicht ihm alleine. Seine Tante hätte damals auch etwas Geld in das Grundstück gesteckt. Der Tante, nein, der Tante wollte sie nicht begegnen. Was sollte sie ihr sagen? Also blieb sie, wo sie war. Blieb den ganzen Tag auf dem Bahnhof und wartete. Wartete den ganzen Tag. Zweimal ist einer mit fast dem gleichen Janker aus dem Zug gestiegen. Zweimal ist sie ihm nachgelaufen. Zweimal ist er es nicht gewesen.
Mutlos und enttäuscht ist sie. Immer unsicherer ist sie geworden. Gerade, als sie fast schon aufgibt, weil es ja keinen Sinn hat, da sieht sie ihn. Er steigt aus, genauso, wie sie es sich vorgestellt hat. Den Janker vom Bild mit der Kor - binianskirche hat er an. Sie erkennt ihn schon von Weitem. Zu ihm hinüberlaufen will sie. Ihn umarmen, festhalten, nicht mehr loslassen. Da sieht sie sie, die Frau. Hübsch ist sie. Nicht älter als der Chauffeur. Ein Kleid trägt sie und darüber eine Strickjacke. Die dunkelblonden Haare kurz geschnitten. Arm in Arm gehen sie. Vertraut sehen die beiden aus, wie sie an ihr vorbeigehen. Kathie weiß nicht, ob auch er sie gesehen hat. Sie steht genau hinter ihm, als er die Frau küsst. Den Kuss, den eigentlich sie bekommen wollte. Sie geht hinter den beiden her. Immer mit Abstand. Weit genug entfernt, um nicht gesehen zu werden, und doch nahe genug, um alles zu sehen. Zur Straßenbahnhaltestelle gehen sie. Kathie bleibt
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