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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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junge Frau konnte verletzt sein oder tot. Falls sie noch lebte, würde sie sich höchstwahrscheinlich zu erkennen geben: würde wild gestikulieren, fordernd winken oder, besser noch, das alpinistische Notsignal anzeigen, ein aus nach oben gestreckten und leicht gespreizten Armen mit der Körperlinie gebildetes Y.
    Sie flogen ins Karwendeltal, ins Hinterautal, ins Gleirschtal. Dann über Giessenbach hinweg und dem Talverlauf folgend Richtung Eppzirler Alm. Sie sondierten das ganze Gebiet, das laut Anweisung von Kommissar Hosp in Frage kommen konnte.
    »Da könnte man genauso eine Nadel im Heuhaufen suchen, oder«, sagte der Co-Pilot, der die Angewohnheit hatte, an fast jeden Satz ein »oder« dranzuhängen – auch wenn es sich nicht um eine Frage handelte.
    »Da hast du schon recht«, sagte der Pilot. »Aber du weißt ja selbst, wie oft wir auch schon Glück gehabt haben. Oder siebter Sinn, was weiß ich. Nenn es, wie du willst.«
    »Auf jeden Fall muss was passiert sein, oder. Die Innsbrucker gehen von einem Gewaltdelikt aus. Muss keins sein. Hier im Gebirg kannst du dir auch so das Genick brechen, oder.«
    Sie nahmen ihren Auftrag sehr genau. Suchten noch mit dem Scheinwerfer, als sich die Dämmerung schon schwer auf die Täler legte. Sie suchten überall. Nur nicht dort, wo Marielle um ihr Leben lief.
    * * *
     
    Ferdinand hörte den Hubschrauber knattern, und einen Moment lang dachte er, es würde ihm gelten. Er blieb stehen, drängte sich an eine der wenigen Lärchen, die in dieser Höhe noch standen, aber der Hubschrauber flog vorbei, hatte eines der Karwendeltäler zum Ziel, und offensichtlich nahm niemand Notiz von ihm und dem, was da in der Ostflanke der Brunnsteinspitze vor sich ging.
    Ein Stück über ihm war die junge Frau. Ferdinand staunte über ihre Zähigkeit, ihre Kraft. In gleichmäßig hohem Tempo stieg sie auf, und er hatte bisher alle Mühe gehabt, nicht den Anschluss zu verlieren.
    Ferdinand lächelte. Er war froh, sein Versteck so geschickt gewählt zu haben, an einem Ort, wo sie ihn nicht vermuteten und wo sie ihn nicht finden würden. Genauso gut könnten sie droben an den Arnspitzen suchen oder im Wettersteingebirge oder oberhalb von Seefeld. Er fühlte sich wie eine einzelne winzige Tannennadel in einem endlos weiten Wald. Das machte ihn sicher, nicht entdeckt werden zu können. Und auch die Frau würde hier keiner finden.
    In der Nähe seiner Höhle – die jetzt gar nicht mehr weit entfernt lag – hatte er eine weitere entdeckt, weniger groß und weniger praktisch, aber groß genug, um dort die Frau zu verbergen, wenn er sie totgemacht hatte.
    Er merkte, dass er immer noch den spitzen Stein in der Hand hielt.
    Und da lächelte er.
    Bin dumm, dachte er. Muss den Stein nicht mitschleppen da rauf. Da gibt es genug. Genug Steine, um ihr damit den Schädel einzuschlagen …
    Doch dann besann er sich. Er würde sie erst nur mit einem stumpfen Brocken auf die Schläfe schlagen, sodass sie bewusstlos oder zumindest nicht ganz tot wäre. Und dann …
    Er lächelte so innig wie ein Kind in der Vorfreude auf die weihnachtliche Bescherung, die kurz bevorstand.
    Und dann stapfte er wieder los, nahm sein Tempo von vorhin wieder auf und war jetzt noch fester entschlossen, sie einzuholen, sie niederzuschlagen, sie zu töten – zuvor aber noch Sachen mit ihr zu machen.
     
    Marielle hatte das freie Schrofengelände erreicht. Sie sah, dass Ferdinand ein Stück unterhalb ihrer Position stehen blieb und dem Hubschrauber nachblickte, der um den Berg bog.
    Sie hatte den Helikopter natürlich auch gehört, und sie hatte schnell erkannt, dass er viel zu tief flog, um sie ausfindig machen zu können. Einen Moment lang hatte sie in Erwägung gezogen, sich dennoch hinzustellen und wild gestikulierend zu versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Doch sie hatte um die Nähe ihres Verfolgers gewusst, und ohne lange darüber nachzudenken, entschied sie sich fürs Weiterlaufen. Nur keine Sekunden verlieren.
    Es war ihr klar, dass ihr vom Hubschrauber aus nicht sofort geholfen werden konnte. Landen war hier nirgends möglich. Vielleicht ließ sich Ferdinand abhalten, sie im Licht der Heli-Scheinwerfer weiterzuverfolgen. Aber gewiss war das nicht.
    Sie musste diese Sache hier selbst austragen und durfte nicht auf Hilfe von außen hoffen, die vielleicht nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen würde.
    Sie sprang über brüchiges Gestein, Brocken kullerten unter ihren Füßen weg. Was das Gelände anging, war es hier

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