Kalter Fels
Spürte, wie sich ihre Schultermuskulatur verkrampfte und wie Angst in ihr aufstieg. Sie zwang sich, langsam und ganz tief zu atmen. Und mit diesem tiefen Atmen und ihrer Konzentration auf das, was unvermeidlich bevorstand, ihr Adrenalin hochzupumpen. Sie wusste vom Klettern, wie das ging.
Aber jetzt war alles anders. Jetzt hielt sie niemand am Seil. Jetzt war sie ganz auf sich gestellt. Sie war allein. Ganz allein.
Aber das stimmte nicht: Da war noch jemand.
Sie hatte es gewusst und nie daran gezweifelt.
Da war noch jemand – und jetzt konnte sie ihn sehen.
16
Der Mann trat einfach hinter einem Baum hervor. Als wäre es das Normalste von der Welt, dass er sich die ganze Zeit verborgen gehalten hatte und sich jetzt zeigte. Er tat es ruhig, gelassen, keine Bewegung war schnell oder gar fahrig.
Marielle schätzte den Abstand zu ihm auf etwa zwanzig Meter, vielleicht sogar etwas weniger.
Der Mann stand da mit ausgebreiteten Armen. Es erschien ihr wie eine Einladung. Nur dass er in der Rechten einen Stein hielt, nicht sehr groß, aber spitz. Selbst auf die Entfernung hin konnte sie sehen, dass dieser Stein ihr den Schädel zertrümmern könnte.
Die Gedanken rasten durch Marielles Kopf. Ihre Überlegungen kreuzten sich, rammten sich, führten in Sackgassen. Da stand dieser Ferdinand Senkhofer, nicht sehr groß, nicht sehr breit, eher ein zierlicher Mann. Aber was spielten Größe und Körperkraft noch für eine Rolle, wenn jemand entschlossen war zu töten?
Sie machte ein paar Seitschritte nach rechts. Ihre Augen ließ sie nicht von Ferdinand. Der gab ihr zwei, drei Sekunden Vorsprung. Dann setzte er sich parallel zu ihr in Bewegung. Die Arme hielt er nach wie vor locker ausgestreckt.
Wie diese Jesusfiguren, dachte sie. Ihr Kinderlein kommet, kommet alle zu mir. Aber ich komm nicht. Wenn du mich willst, dann musst du mich schon holen.
Sie machte ein paar Seitschritte zurück. Ferdinand tat es ihr gleich. Sie erhöhte das Tempo. Er auch.
Hätte jemand zugesehen, er wäre zur Überzeugung gekommen, dass es sich um eine eigenwillige Choreographie handeln müsse, um modernes Ballett inmitten rauer Natur, um Ausdruckstanz ohne Musik und ohne Worte. Es war ein unablässiges Hin und Her, schneller werdend wie bei einem Bolero. Dabei gab hier die Frau den Schritt vor, sie rannte los, blieb abrupt stehen, täuschte eine Richtungsänderung an, führte sie aber nicht aus, sondern machte weitere Schritte in die vorherige Richtung, einen, zwei, drei, um dann doch noch und urplötzlich den Rückweg einzuschlagen.
Und der Mann?
Er schien jede ihrer Bewegungen zu studieren und gleichsam in sich aufzunehmen und dann widerzuspiegeln. Sie kamen sich nicht näher dabei, führten ihren sonderbaren Tanz im immergleichen Abstand voneinander auf, er machte keinen Schritt bergan und sie keinen bergab. Eines aber war klar: Sie würde nicht so ohne Weiteres an ihm vorbeikommen. Er würde versuchen, ihr den Weg abzuschneiden, und seine Chancen dafür standen nicht schlecht.
Wieder und wieder versuchte sie, ihn ein paar Schritte weit in die falsche Richtung zu locken, um dann in großen Sprüngen ins Tal rennen zu können. In zwei oder drei Minuten würde sie unten sein – aber Ferdinand fiel auf keinen ihrer Bluffs herein.
Marielle erinnerte sich gut an das, was Schwarzenbacher nach der Vernehmung von Ferdinands Schwester berichtet hatte: dass dieser Mann Jahrzehnte fast wie ein Tier gelebt hatte – kein Wunder, dass er mittlerweile die Instinkte eines Fuchses besaß. Eines Fuchses oder, schlimmer noch, eines Wolfes.
Marielle brauchte eine Strategie. Eine Überlebensstrategie.
Sie sah nach oben. Hier, im Wald, würde es nicht mehr lange dauern, bis das Licht des späten Nachmittags einer fahlen Dämmerung weichen musste. Weiter oben aber leuchteten die Felsen weiß und gelblich. Sie hatte keine Ahnung, wie schwierig das Gelände dort sein würde. Soweit sie informiert war, gab es dort keine Kletterrouten; sie hatte noch nie gehört, dass es dort oben für Kletterer interessant sein könnte. Vielleicht auch nur, weil der Zustieg im Verhältnis zur eigentlichen Kletterei zu lang wäre. Von ihrer Warte aus war überhaupt nicht abzuschätzen, wie schwierig oder vielleicht weniger schwierig das Felsgelände sein würde. Ob es Schrofenkletterei wäre, gut griffig im zweiten und dritten Schwierigkeitsgrad, oder ob sich der Fels zu einer kompakteren Flucht schloss, nur in ausgesetzter Kletterei zu überwinden.
Sie schaute hinunter
Weitere Kostenlose Bücher