Kalter Fels
Gießenbach oder in der Umgebung von Scharnitz ihrer neuen Leidenschaft zu frönen.
»Warum hat sie uns nie etwas gesagt davon?«, fiel ihm Schwarzenbacher ins Wort. »So wie du das schilderst, läuft sie dort oben in der Hoffnung, eine Spur von unserem allseits geschätzten Ferdinand zu entdecken. Und wenn das stimmt, dann könnte ihr Verschwinden mehr bedeuten als einen verstauchten Knöchel.«
* * *
Marielle stieg langsam bergab. Sie prüfte ganz genau, wo sie hintreten wollte, Schritt für Schritt. Sie hatte keine Angst, was die Situation betraf, in der sie sich befand. Sie fühlte sich stark, kraftvoll und aggressiv genug, um das alles auszuhalten. Aber sie fürchtete sich davor zu stolpern, sich vielleicht zu verletzen, und sei es nur eine Bänderzerrung am Fußknöchel, und dadurch hilflos zu werden.
Ihre sämtlichen Sinne waren in Alarmbereitschaft versetzt. Sie hörte alles, sah alles, nahm jeden Geruch intensiver wahr als sonst.
Sie hatte sich dafür entschieden, zurückzukehren zur Straße. Es war ihr klar, dass sie dabei an dem Menschen vorbeimusste, der sie beobachtet hatte, wahrscheinlich immer noch beobachtete. Hinter irgendeinem dieser Bäume hockte jemand und belauerte sie.
Sie ging nicht entlang ihrer Aufstiegslinie, sondern hielt sich schräg nordwärts, ein wenig in Richtung Mittenwald. Schritt für Schritt für Schritt. Der Pfefferspray steckte jetzt griffbereit in der Jackentasche, das offene Schweizer Messer hielt sie, die Klinge unterm Ärmel ihres Pullis, in der Rechten versteckt.
Ihr Plan war einfach: absteigen bis zum Wanderweg neben dem Bahngleis, dann Gleis und Straße überqueren und im Laufschritt zur Tankstelle oder gleich noch die zweihundert Meter zur früheren Grenzstation von Scharnitz. Hier würde sie Pablo verständigen. Und sie würde nicht mehr weggehen, bevor er mit dem Auto direkt vor ihr hielt.
Sollte sie dabei hier im Bergwald irgendjemandem begegnen, so würde sie sofort losrennen, in großen Sprüngen das steile Gelände hinab. Sie spürte die Entschlossenheit in ihrem Herzen und die Kraft in ihren Beinen. Sie war Herrin der Situation.
Doch was, dachte sie, wenn er mich überrascht?
Sie umschloss den Griff ihres Taschenmessers noch fester. Ihre Hände schwitzten. Sie bekam Zweifel, ob sie mit einer schweißnassen Hand das Messer mit genug Druck würde einsetzen können. Die Klinge war ohnehin nicht lang. Sie überlegte kurz, wo sie hinstechen sollte. Nicht in die Brust, dachte sie, da kommen gleich Rippen. Das nützt nichts. In den Bauch, dachte sie. In den Bauch wäre gut.
Sie dachte an die Rasierklinge, die sie sich damals auf der Laaserhütte unter das Wristband geschoben hatte. Sie war in die Gewalt eines fast noch jugendlichen Mörders geraten, in den Bergen – dort, wo ihr immer alles so friedlich vorgekommen war.
Sie war unbemerkt an die Rasierklinge gekommen. Und dann war sie viele Stunden lang mit Konrad Krupp im tief verschneiten Gebirge unterwegs gewesen. Ein Gang auf Leben und Tod. Und in diesen Stunden hatte sie immer auf eine Situation gewartet, ihm mit dem Messer an die Gurgel gehen zu können.
Es war das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie sich solcher Gefahr ausgesetzt gesehen hatte. Und sie war dabei beinahe über sich selbst erschrocken: Sie hatte zuvor nicht die leiseste Ahnung gehabt, zu welcher Brutalität sie fähig sein würde.
Und jetzt war es wieder so weit.
Sie musste sich darauf einstellen zu kämpfen. Sie musste bereit sein, jemanden zu töten. Denn daran bestand kein Zweifel für sie: Wenn es dieser Ferdinand war, der Mann, der vor vielen Jahren einen Bergsteiger und vor Kurzem eine Frau getötet hatte, dann würde er nicht zögern, auch sie ins Nirwana zu schicken.
Was sie als Nächstes tat, versetzte ihr selbst einen Schrecken. Denn sie hatte es nicht geplant. Es geschah einfach so. Sie blieb stehen zwischen den Lärchen und Buchen, deren frisches Nadelgeäst und junges Blattwerk im Licht der niedrig stehenden Sonne besonders intensiv leuchtete.
Sie blieb stehen, sah nach oben, nach rechts, nach links. Sah, dass es noch ein gutes Stück Weg war, ehe sie die Talsohle erreichen würde, vermutete Ferdinand Senkhofer noch immer im Gelände unter sich und schrie plötzlich mit aller Kraft: »Komm raus, du verdammter Dreckskerl! Komm raus aus deinem Versteck! Ich weiß, dass du da bist. Und ich hab dich längst gesehen! Los, trau dich, du blödes Schwein!«
Marielle spürte die Anspannung im ganzen Körper.
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