Kalter Fels
zu Ferdinand. Er war wohl zu weit weg, um den Stein nach ihr werfen zu können. Außerdem stand sie höher als er. Bergaufwerfen, das ging nicht. Bergabwerfen, das war leicht.
Sie bückte sich, hob ein paar Steinbrocken auf, kaum größer als Walnüsse, und schleuderte sie in die Richtung, in der Ferdinand stand.
Ich hab noch nie gut schmeißen können, dachte sie. Treffen tu ich den nie.
Aber das war ihr auch nicht das Wichtigste. Denn ihr war klar, dass sie ihn mit diesen Steinchen nicht ernsthaft verletzen, ihn nie und nimmer außer Gefecht setzen würde. Es ging ihr vor allem darum, ihn zu reizen, den Rhythmus der Vorgänge zu unterbrechen, ihn nach Möglichkeit zu verstören und ihn dann zu überraschen.
Der Kerl hat einen Hau, dachte sie. Ich weiß es, es ist erwiesen. Und wenn er einen Hau hat, muss es einen Weg geben, ihn aus der Fassung zu bringen. Er ist ein Idiot.
Die letzten Worte hatte sie wieder halblaut vor sich hin gesprochen. Ihre eigene Stimme zu hören gab ihr Kraft und Selbstvertrauen.
»Hey! Idiot! Ich schmeiß dir mit den Steinen deinen behämmerten Schädel ein.«
Ferdinand ließ die Arme sinken, die er die ganze Zeit über vom Körper abgespreizt gehalten hatte. Er schien einen Moment lang zu stutzen. Aber nur diesen einen Moment. Dann setzte er sich in Bewegung. Begann in viel größeren Schritten bergan zu steigen, als Marielle das für möglich gehalten hätte. Er schien die Bergflanke geradezu hinaufzurennen, die starke Steigung bot ihm allem Anschein nach kaum Widerstand, und Marielle durfte keinen Moment länger als die unvermeidliche Schrecksekunde zögern. Sie drehte sich um und lief los, so schnell es nur ging.
Sie wusste, was auf dem Spiel stand.
Und sie hatte ein Ziel: den Wald hinter sich zu lassen, die Schrofen zu erreichen und über sie hinweg in steileren Fels zu gelangen.
Wie in einem Slalom bewegte sie sich zwischen den Bäumen hindurch. Sie stapfte mehr, als dass sie lief – fürs Laufen, fürs richtige Laufen war es zu steil und auch zu wild. Umgefallene Bäume, schiefwüchsige Kiefern, Steinbrocken, all das stellte und legte sich ihr wie ihrem Verfolger in den Weg und musste überwunden oder hakenschlagend umgangen werden. Marielle keuchte vor Anstrengung, die Lungen brannten ihr, und sie merkte, dass ihre Oberschenkelmuskulatur hart wurde von der immensen Belastung. Immer wieder blickte sie sich um, sah ihren Verfolger näher kommen und wieder zurückfallen und war dabei erstaunt, über welch enorme Kondition dieser Mann, der um Jahrzehnte älter war als sie, noch verfügte. Und was war mit seiner Verletzung, mit dem Blut, das man am Tatort gefunden hatte?
Ein Wolf, dachte sie. Er ist ein Wolf.
* * *
Es war noch hell, als die Bergrettungen von Scharnitz und Seefeld in Österreich sowie die Bergwacht Mittenwald in Deutschland mit Geländefahrzeugen ausrückten, um die Täler des Karwendel- und des Wettersteingebirges nach Marielle Czerny abzusuchen.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, hatte Pablo zu Hosp gesagt. »Wenn sie da oben ist, muss sie entweder den Zug genommen haben oder bei jemandem mitgefahren sein.«
Hosp hatte die Handy-Ortung veranlasst und gleichzeitig in Scharnitz und Seefeld Bescheid gegeben. Die Polizeidienststelle in Seefeld hatte sodann die deutschen Kollegen um Amtshilfe gebeten. Da aber alle Stationen mit nicht gerade vielen Beamten besetzt gewesen waren, lag der Entschluss nahe, zuallererst die Bergrettung einzuschalten.
Kurz darauf starteten allerdings auch zwei Polizeihubschrauber, einer auf bayerischer, einer auf Tiroler Seite. Das deutsche Pilotenteam flog rund um die Soiernspitzen, querte hinüber nach Klais, umrundete den Kranzberg samt Ferchensee und Lautersee, bog dann über der Leutaschklamm wieder Richtung Isartal ein und flog, vom bayerisch-tirolerischen Grenzbereich bis nach Wallgau, tief über der Isar dahin. Keiner der Beamten wusste, was genau zu suchen war. Es gab eine vage Personenbeschreibung von Marielle Czerny – wobei Pablo nicht einmal zweifelsfrei hatte sagen können, welche Bekleidung sie trug. Aber auch wenn die Beamten nicht wussten, worauf sie sich einstellen mussten, so waren sie sich aufgrund ihrer Erfahrung dennoch sicher, den Ernstfall schon zu erkennen, wenn er sich ihnen zufällig zeigte.
Den österreichischen Kollegen erging es wenig anders. Sie hielten Ausschau nach einer jungen Frau. Allein unterwegs. Oder, in sonderbarer Begleitungssituation, mit einem wesentlich älteren Mann. Die
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