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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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nicht allzu gefährlich: Wäre sie gestolpert, dann wäre sie nicht abgestürzt. Es gab keine Abgründe links und rechts ihres Fluchtweges. Sie wäre schlimmstenfalls hingefallen und hätte sich die Knie aufgeschlagen oder den Fuß verstaucht. Allerdings hätte auch das tödliche Folgen gehabt. Sie schätzte ihren Vorsprung auf Ferdinand auf etwa fünfzehn bis zwanzig Sekunden.
    »Du darfst nicht stürzen, Mädchen«, sagte sie sich. Und sie hörte ihre Stimme zwischen den keuchenden Atemzügen.
    Nur noch ein Stück, dann hast du es geschafft. Ferdinand mochte sich im steilen Gelände flink bewegen können, aber sie konnte sich gewiss sein, dass er nicht über die Gabe verfügte, senkrechten Fels zu durchklettern. Es gab Naturtalente, keine Frage. Doch Talent allein reichte nie: Man musste sehr viel klettern, um mit dem Fels vertraut zu werden.
    Sie hastete über eine kompaktere Felsrippe, zog sich an Latschenbüschen Striemen an Armen und Beinen zu, doch sie spürte davon nichts. Ihre ganze Konzentration galt dem nächsten Schritt. Und ihr Ziel war eine Aufsteilung im Fels, eine Wand von vielleicht achtzig Metern Höhe, steil, sehr steil, dabei aber gegliedert, durchzogen von Felsrippen, Rissen und Kaminen.
    Kletterbar, dachte Marielle. Da kommt man rauf, dachte sie.
    Sie konnte aus der Entfernung noch nicht einschätzen, wie groß die Kletterschwierigkeiten sein würden. Sie musste spekulieren. Vierter Schwierigkeitsgrad? Fünfter?
    Fünfter wäre schon eine verdammt heikle Sache. Bei Wandkletterei schaffe ich es auch seilfrei. Nur wenn so ein verdammter Riss …
    Sie wollte gar nicht darüber nachdenken.
    Hoffentlich nicht schwerer als vier oder fünf. Ich muss ihn da hineinlocken. Muss ihn sich in das steile Gelände hineinverirren lassen, bis er sich in die Hosen scheißt.
    * * *
     
    Der goldene Glanz auf den Dächern der Stadt war gewichen. Die Bergspitzen der Karwendel-Nordkette hoch über Innsbruck leuchteten zwar noch, aber unten im Tal breitete sich die Nacht schon wie eine schwere Decke aus.
    Hosp war stinksauer. Er stand in seinem Büro, sein Assistent Wasle war da, Schwarzenbacher hockte in seinem Rollstuhl neben dem Schreibtisch.
    »Verdammt noch mal!«, brüllte Hosp, der eher selten zu Wutausbrüchen neigte, ins Telefon. »Ich habe Handy-Ortung angeordnet! Vor eineinhalb Stunden! Was ist da eigentlich los?«
    Schwarzenbacher und Wasle sahen ihn gespannt an. Selbst Wasle, der seit sieben Jahren eng mit dem Kommissar zusammenarbeitete, hatte ihn selten so aufgebracht erlebt.
    »Also: dann bis in zehn Minuten«, polterte er in den Apparat. »Und zwar mit hieb- und stichfesten Angaben. Falls ihr das nicht hinbekommt, werde ich euch die Ärsche aufreißen, dass ihr wünscht, ihr wärt mir nie über den Weg gelaufen.«
    Sechs Minuten später kam der Bescheid. Marielles Handy war abgeschaltet, konnte aber zweifelsfrei geortet werden. Es befand sich in einer selbst in den genauesten Karten nicht näher benannten Bergflanke direkt über Scharnitz. Nicht in der Gipfelregion, aber auch nicht im Tal. Irgendwo in einem vermutlich ziemlich unwegsamen Gelände.
    »Pablo hat recht gehabt«, sagte Hosp zu den anderen in seinem Büro. »Marielle ist dorthin, wo sie Senkhofer vermutet haben muss. Das Telefon ist festgestellt worden. Ob sie selbst aber auch noch dort ist, ist fraglich. Ob sie noch lebt oder tot ist, ebenso.«
    »Großeinsatz?«, sagte Schwarzenbacher. Es war keine Frage.
    »Großeinsatz«, sagte Hosp und tippte eine Nummer ins Telefon ein.
    »Ich bin optimistisch, dass sie noch lebt«, sagte Schwarzenbacher.
    »Hmm.« Hosps Reaktion war nicht gerade eine Zustimmung.
    »Doch. Ich bin optimistisch. Sie ist ein teuflisch zähes Ding. Und sie ist mit allen Wassern gewaschen. Glaub mir, die sammeln wir irgendwo auf – lebend.«
    »Hmm«, machte Hosp noch einmal, ohne dass dabei mehr Überzeugtheit mitschwang.
    »Du bist ein Schwarzseher«, sagte Schwarzenbacher. »Ein verknöcherter Schwarzseher. Ist es nicht so?«
    Hosp rang sich ein müdes Lächeln ab.
    »Weißt du«, sagte er dann. »Ich hab irgendwann ein Interview mit dem Schriftsteller Dürrenmatt gelesen. Der hat so hochliterarische Krimis geschrieben. Und Theaterstücke …«
    »Komm schon zur Sache.«
    »In diesem Interview also hat er gesagt, dass es bei ihm nicht leicht ein Happy End gibt. Dass seine Romane vielmehr immer die schlimmstmögliche Wendung nehmen würden.«
    Schwarzenbacher schwieg. Er sah Hosp an und schwieg. Er versuchte, die

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