Kalter Fels
ihre Blase entleert hatte – und spürte dabei vor allem die Gefahr, dass jetzt alles zu Ende gehen könnte.
Sie horchte, ob Ferdinand zurückkommen würde. Sie wusste ja, dass das, was er tat, getan werden musste. Und doch – es war wie ein schrecklicher Schlusspunkt.
Sie drückte auf die Spülung, zog sich den Rock zurecht und ging in die Küche. Auf der Kommode stand das Telefon, und daneben lag das Telefonbuch. Sie holte ihre Lesebrille aus der Schublade, schlug das Telefonbuch auf, suchte »Scharnitz« und dann, in »Scharnitz«, »Grasberger«.
»Grasberger M.«, eine vierstellige Nummer, die sie sich merken konnte.
Aber sie rief nicht an.
Sie holte sich aus dem Vorratsschrank eine Flasche mit Schnaps, schenkte sich ein Wasserglas halb voll mit klarem Enzian und trank es in einem Zug leer. Bitter und scharf.
Sie sagte sich die einzelnen Ziffern von Marianne Grasbergers Telefonnummer immer wieder halblaut vor. Lernte sie auswendig. Prägte sie sich so genau ein, dass sie die Ziffernfolge noch in zehn oder zwanzig Jahren nicht vergessen haben würde. Aber sie wählte die Nummer nicht.
Sie hockte am Küchentisch, leicht benommen vom ungewohnten Alkohol, und versuchte, das Anrufen gegen das Nichtanrufen aufzuwägen.
Wenn ich sie anruf, kann ich ihr sagen, dass sie aus der Wohnung rennen soll, dachte sie. Dass sie davonrennen soll, weil mein Bruder sie sonst umbringt. Wenn ich sie anruf, und wenn sie überhaupt noch lebt, könnte ich sie retten. Aber was geschieht dann mit Ferdinand? Und was mit mir?
Und wenn ich sie nicht anruf? Wenn ich einfach nicht zum Telefon geh? Wenn ich nicht weiß, was da drüben im Haus passiert, es gar nicht wissen will?
Die Küchenuhr tickte.
Hedwig schenkte sich noch einmal vom Enzianschnaps ein, nicht mehr so viel wie beim ersten Mal, aber doch genug, um in ihrem Kopf einen Eintopf anzurühren. Die Gedanken kamen ohne Anfang – und sie gingen ohne Ende …
Ich ruf nicht an, dachte sie.
Sie stand mühsam auf, ging wacklig zur Kommode, wo neben dem Telefon ein altes Transistorradio stand, und schaltete es an:
»Chirpy Chirpy Cheep Cheep«. Ein alter Pop-Hit von einer Band namens …
Sie kam nicht darauf, wie die Band geheißen hatte. War ja aber auch egal.
So wartete sie die nächsten Minuten nur noch darauf, ob der Moderator sagen würde, wer das Lied gesungen hatte.
»Middle of the Road«.
Verdammt, dachte sie, dass ich da nicht drauf gekommen bin. Die kenn ich, natürlich kenn ich die.
Und schon lief der nächste Siebziger-Jahre-Hit – und sie war von nun an voll damit beschäftigt, die Musikstücke zu erkennen und sich an den alten Schlagern zu erfreuen. Der Rest der Welt ging sie nichts an.
* * *
Marianne war aus den Hausschuhen geschlüpft. Sie hatte ihren Stuhl so hingerückt, dass sie nun schräg seitlich von Ferdl saß. Sie zog die Knie an und stellte ihre dünn bestrumpften Füße auf seine Oberschenkel.
»Wenn ich lang steh, bekomm ich immer so müde Füße. Magst sie nicht ein bisserl massiern?«
Ferdinand sah Marianne fragend an.
»Mit die Händ halt die Zehen reiben und die Ballen. Das tät mir schon gut. Probier’s doch einmal.«
Mit der linken Hand griff er ihren linken Fuß und begann, die Zehen zu reiben. Mit der anderen Hand hielt er den Griff seiner Tüte, die wieder am Boden stand. Der Fuß roch ein bisschen käsig, aber das störte Ferdinand nicht. An schlechte Gerüche hatte er sich seit Langem gewöhnt.
»Darfst schon fester drücken«, sagte Marianne. »Hmmmm, das tut gut.«
Sie presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne und ließ ihren rechten Fuß von Ferdls Oberschenkel zu seinem Schritt wandern, ganz spielerisch, ganz nebenbei. Und während er mit der einen Hand ihren Fuß rieb, kitzelte sie ihm mit den Zehen das Glied hart.
»Bist ein richtig großer Mann geworden«, sagte sie und lachte Ferdl an. »Ich glaub, du musst mich öfter besuchen kommen. Wann musst überhaupt zurück nach Australien? Oder vielleicht musst ja gar net zurück nach Australien?«
Ferdinand war irritiert. Zum einen, weil er es jetzt gern gehabt hätte, zu Hedwig zu gehen und sich in ein heißes Badewasser legen zu können. Zum anderen, weil sie immer Australien sagte. Er wusste nicht, was richtig und was falsch daran war. Wusste nicht, ob es richtige oder falsche Antworten gab. Bestimmt gab es Antworten, die ganz falsch waren. Also schwieg er.
Marianne fischte sich einen Keks aus der Schale am Tisch. »Du bist mir einer«, sagte sie. »Noch
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