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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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und es kamen Erinnerungen in ihr auf, Erinnerungen an eine Kindheit und eine Jugend, die sich verflüchtigt hatten, die verloren gegangen waren, die übergegangen waren in ein Leben voller Eintönigkeit und Illusionslosigkeit. Sie erinnerte sich an den Buben, der er einmal gewesen war, im Kopf nicht ganz in Ordnung, aber lieb und lustig.
    Er hat sogar über sich selbst lachen können, dachte sie. Über sich und seine vielen Fehler, die er immer gemacht hat.
    Dann erschrak sie über ihre Unhöflichkeit. Sie standen ja noch immer im Stiegenhaus. Sie hatte es bisher versäumt, ihn hereinzubitten.
    »Musst entschuldigen, Ferdl«, sagte sie. »Bittschön, komm herein. Du hast mich jetzt so durcheinandergebracht, dass ich ganz darauf vergessen hab, dich hereinzulassen. Komm! Komm herein. Nur zu …«
     
    Ferdinand folgte ihr in den engen Flur und weiter in die überheizte Wohnküche. Es waren viele Eindrücke auf einmal für ihn, aber er schaute sich im Flur die gerahmten Fotos an und begutachtete auch alles, was die Küche zu bieten hatte: die alte Einrichtung, Schränke und Anrichten – billige Furnierware. In der Mitte ein Tisch mit Resopalplatte, drei Stühle außen herum, an zweien der weiße Lack stellenweise schon abgesprungen. Er sah eine Puppe mit Häkelgewand, ein paar Blumentöpfe am Fenster, eine Kaffeemaschine, allerlei Ramsch, der herumstand. Und in einer Ecke hatte der hängebäuchige Hund, den er an den vergangenen Abenden beobachtet hatte, sein Körbchen. Da lag er drin, hob bei Ferdinands Eintreten kurz den Kopf, döste aber desinteressiert gleich wieder weiter.
    »Sepperl!«, sagte Marianne vorwurfsvoll. »Magst denn unseren Gast net wenigstens begrüßen? Du bist mir so einer …«
    Zu Ferdinand gewandt sagte sie: »Er ist halt schon alt.«
    Ferdinand ließ sich auf einen Stuhl sinken. Seine Plastiktüte stellte er neben sich auf den Boden, behielt den Griff aber weiterhin fest in der Hand.
     
    »Ach, Ferdl«, sagte Marianne, »leg doch wenigstens die dicke Jacke ab. Oder bist etwa in Eile? Ich hab mir grad einen Kaffee aufsetzen wollen. Magst eine Tasse mittrinken?«
    Auf den Vorschlag, seine Jacke, einen alten, einstmals waldgrünen Parka, abzulegen, ging Ferdinand nicht ein. Aber den angebotenen Kaffee lehnte er nicht ab. Den Griff der Tüte hielt er fest.
    Marianne legte eine Filtertüte in die Kaffeemaschine ein und löffelte das Kaffeepulver aus einer runden Blechdose hinein. Der Ferdinand, dachte sie. Jetzt ist er wieder da. Zurück aus Australien.
    Er sagte nichts.
    Aber das kannte sie, so war er früher schon gewesen. Hatte von sich aus nie viel geredet, da hatte der Anstoß schon immer von außen kommen müssen.
    »Bleibst für länger?«, fragte sie.
    »Was?«
    »Ich mein, wie lang bleibst du denn jetzt in Scharnitz? Wann musst wieder zurück?«
     
    Er dachte an seine Hütte im Gebirge und rätselte, woher sie davon wissen konnte.
    »Nicht lang«, sagte er dann, weil er der Meinung war, dass diese Aussage nichts preisgeben würde.
    »Was machst dann eigentlich immer so?«, fragte sie weiter.
    Ferdinand dachte an die Sommer mit Hedwig und den Ziegen, an die einsamen Winter, an die verschlafenen Tage und die durchwachten Nächte, an seine wenigen Schritte um die Hütte herum, an seine Angst, irgendwann entdeckt zu werden, und an Hedwigs Angst, die vielleicht noch größer war als die seine.
    Und er dachte, dass Hedwig ganz recht hatte: Marianne wusste alles, hatte alles durchschaut. Er konnte also gar nicht anders, als irgendetwas zu tun.
    »Wie lange warst du jetzt nicht mehr da?«, fragte Marianne weiter. Der Kaffee lief gurgelnd und zischend durch die Maschine.
    Weil Ferdinand kein Gefühl für Zeit besaß, sagte er einfach nur: »Lang.«
     
    »Ja, lang. Lang warst du weg. Und ich bin alt worden derweil. Schau mich an: eine alte Frau.«
    Es kam ihm komisch vor, dass sie dabei lächelte.
    »Es ist ungerecht, dass wir Frauen alt werden und ihr Männer euch noch immer gut haltet. Derweil sind wir doch gleich alt, ungefähr. Vierundfünfzig.«
    Ferdinand schaute sich Marianne genau an. So alt kam sie ihm auch wieder nicht vor. Alt schon, das ja. Aber immer noch irgendwie eine Frau. Er hatte sie nur als Mädchen gekannt, als sie ganz jung gewesen waren, Kinder, Jugendliche. Da war sie natürlich ganz anders gewesen. Lustig. Mit Zöpfen, als sie noch klein war. Und später mit einem Rock, der nicht einmal über die Knie reichte.
    Er erinnerte sich daran, dass sie, außer seiner Schwester,

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