Kalter Fels
Bauch abgesehen gehabt, auf den Bauch oder den Unterleib, aber weil er noch ein Stück Richtung Stein gekrochen war, rücklings, erwischte sie ihn nicht an diesen Stellen.
Er riss die Knie in die Höhe, als sie mit dem Messer auf ihn zukam, und allein schon diese Reflexbewegung nahm ihm die Luft, und ein Schmerz durchfuhr ihn von der Brust ausgehend bis in die Beine. Doch dieser Schmerz wurde gleich von einem viel schlimmeren übertroffen. Das Messer, mit dem Marianne auf ihn losging, traf ihn zunächst an der linken Kniescheibe, schlitzte die gespannte Haut auf, rutschte am Knochen ab und schoss seitlich weg und knapp über dem rechten Knie bis tief ins Fleisch, in den Muskel und wohl auch in die Knorpelmasse.
Ferdinand schrie auf, doch der Schmerz war nicht so groß wie die Euphorie, die ihn überkam: Er war nicht im Herzen, in der Brust, im Bauch von diesem tödlichen Messer getroffen worden. Er hatte den Stein erreicht, hatte ihn zu fassen bekommen, hatte ihn in seiner starken rechten Hand – und Mariannes blutüberronnenes Gesicht lag in Hüfthöhe neben ihm. Aus Augen, die vor Entsetzen und vor Hass fürchterlich geweitet waren, starrte sie ihn an.
»Warum?«, stöhnte sie. »Warum machst du …«
Er schlug zu.
* * *
Es war ein besonderer Tag. Stimmungsvoll. Das Grau des Vormittags hatte sich aufgelöst, die Sonne hatte die hohe Wolkendecke durchbrochen, immer mehr vom Himmelsblau hatte sich über die Gipfel des Wettersteins herübergeschoben. Und im Inntal blies schon der Föhn die letzten Schlechtwetterwolken vor sich her, ostwärts, hinaus aus dem Tiroler Land.
Die Berge waren wie poliert. So rein und klar erhoben sie sich über den Orten, aus denen markant die Kirchturmspitzen herausragten. Im Sonnenlicht des Nachmittags boten die Konturen der Bergmassive, die Spitzen, Grate und Kanten, einen herrlichen Anblick. Hoch oben gleißten noch die Schneefelder, aber für Bergsteiger erschienen sie jetzt schon nicht mehr als wirkliche Hindernisse, weit mehr schon als Verlockung, bald wieder über Fels und Firn hinaufsteigen zu können zu den aussichtsreichen Gipfeln.
In den vorgelagerten Bergen, die nicht allzu hoch waren, hatte die Wander- und Bergsteigersaison ja bereits begonnen. Nur in den großen Gebirgen mit ihren mächtigen Flanken und den tief eingeschnittenen Tälern herrschte noch eine Weile Einsamkeit. Vor Ende Mai, Anfang Juni konnte man es nicht riskieren, in diese von gewaltigen Lawinen bedrohten Hochtäler hineinzugehen.
Natürlich taten es trotzdem immer wieder Leute. Ahnten nichts von der Gefahr oder setzten sich über alle Warnungen hinweg. Und dabei kam es immer wieder zu Katastrophen.
»So eine Grundlawine«, sagte Peter Strolz am Telefon zu Marielle, »ist so ziemlich das Übelste, was dir in den Bergen passieren kann.«
Strolz war Berg- und Skiführer. Marielle war als Bergführerin in Ausbildung schon oft auf Führungs- und Ausbildungstouren mit ihm unterwegs gewesen. Sie schätzte ihn wegen seiner ruhigen und besonnenen Art. Er war ein Mann. Aber er war einer der wenigen, mit denen sie öfter zu tun hatte, die sie nicht irgendwann mit Blicken maßen und auszogen und vielleicht ihr Glück bei ihr versuchten. Gelegenheiten hätte es gegeben, gab es immer, wenn man viel gemeinsam unterwegs war.
Sie mochte Strolz, und dennoch hatte sie ihn im vergangenen Jahr aus den Augen verloren. Hatte zwar bisweilen an ihn gedacht, aber sie hatte sich nie dazu überwinden können, ihn anzurufen. Und er hatte sich auch nicht gemeldet, abgesehen von der Karte, die er ihr nach dem Drama an der Schattenwand ins Krankenhaus geschickt hatte.
Umso mehr freute sie sich, dass er jetzt am Telefon war, sich nach ihrem Befinden erkundigte und wissen wollte, was sie in Sachen Bergführerausbildung weiter zu tun gedenke. Er habe zwar Verständnis, dass sie für einige Zeit von den Bergen genug gehabt habe, andererseits wäre es sehr bedauerlich, wenn sie ihr Talent nicht nutzen würde.
Marielle erzählte ihm, dass sie sich wieder gefangen habe, dass dazu aber reichlich Zeit nötig gewesen sei. Sie erzählte ihm von ihrem Neujahrsvorsatz, die Ausbildung zur Bergführerin fortzusetzen, dass sie derzeit aber so viel gleichzeitig zu erledigen habe, dass sie noch nicht wisse, wann sie wieder einsteigen würde.
»Ja«, sagte sie, »es geht mir wieder gut. Und ich glaube, die Angst überwunden zu haben. Zwar sucht mich die verdammte Geschichte noch manchmal in den Träumen heim, aber ich komme damit
Weitere Kostenlose Bücher