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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Rente, die für ein bescheidenes Dasein reichte, und beim Metzger kaufte sie oft das beste Fleisch für den Sepperl und für sich nur einen Aufschnitt oder eine Scheibe Fleischkäs. Das Haus, in dem sie lebte, wurde von mehreren Parteien bewohnt. Sie hatte die Parterrewohnung links, rechts wohnte eine junge Frau, die im »Goldenen Adler« bediente, und im ersten Stock wohnte eine Familie mit zwei Kindern, fünf und sieben, die ihr gehörig auf die Nerven gingen.
    Marianne Grasberger ging zweimal am Tag in den nahen Ortskern, wo sich die paar Geschäfte befanden, die Scharnitz zu bieten hatte. Der ehemalige Grenzort, eingepfercht zwischen steil aufragenden, dunkel bewaldeten Bergflanken, war sicher nicht Tirols erste Adresse. Der Tourismus hielt sich in Grenzen, die Abwanderung der Jungen war hoch, das Leben hier ziemlich eintönig. Sie ratschte gern mit den Leuten, immer auf der Suche nach irgendwelchen Neuigkeiten, die ein wenig Unterhaltung in die Monotonie ihrer Tage zu bringen vermochten.
    Meistens schaute sie fern. Am Nachmittag und am frühen Abend Soaps wie »Julia – Wege zum Glück«, »Sturm der Liebe« oder »Verbotene Liebe«. Nach »Zeit im Bild«, den Abendnachrichten um halb acht, schaltete sie so lange herum, bis sie etwas fand, was kein Fußball und keine Talksendung war. Sie mochte Krimiserien, wenn sie nicht zu brutal waren. Was sie verabscheute, waren die CSI-Serien, wo wissenschaftliche Ermittlungen durchgeführt wurden – mit allen Methoden der modernsten Technik. Aber diese Sendungen zeigten eben auch grauslige Bilder, von denen sie dann nicht träumen wollte. So etwas wie »Ein Fall für zwei« oder auch »Polizeiruf 110« – das war ganz in Ordnung.
    Da konnte sie danach noch mit Sepperl spazieren gehen, ohne sich zu fürchten. Aber sie fürchtete sich ja ohnehin nicht allzu leicht. Oft ging sie noch um zehn Uhr abends oder noch später mit dem Hund hinaus. So spät ging sie dann allerdings nicht mehr bis hinter zur Husky-Zucht, sondern nur noch bis zum Fußballplatz und wieder zurück.
    Sie ließ Sepperl von der Leine, damit er irgendwo auf den Wiesen sein nächtliches Geschäft machen konnte, und genoss selbst die kühle Abendluft.
    Oft wunderte sie sich darüber, wie verschlafen dieses Dorf doch war: Schon um zehn brannten kaum mehr Lichter in den Häusern, ganz Scharnitz schlief unter den dunkel drohenden Bergflanken.
     
    Doch ohne es wissen zu können, war sie seit einiger Zeit nicht mehr allein. In gehörigem Abstand, sodass der Hund nichts merkte (aber er merkte eh nicht mehr viel, und was er bemerkte, war ihm meist völlig egal), ging jemand hinter ihr durch die Nacht. Manchmal war dieser Jemand auch auf einem Weg parallel zu dem ihren unterwegs. Ganz gleich, wie dunkel es war, dieser Jemand konnte sie sehen: Er hatte gute Augen, war besser an die Nacht gewöhnt als andere Menschen. Aber er blieb immer auf Abstand, schien nur jede ihrer Bewegungen zu studieren, schien ihre Wege auswendig lernen zu wollen, schien dabei auf etwas zu warten, auf irgendetwas, von dem er wohl selbst nicht wusste, was es war.
    Seit fünf Abenden ging das nun so. Und Marianne Grasberger hatte nicht die Spur einer Ahnung davon.

8
     
    Als um halb elf am Vormittag die Türglocke schellte, glaubte Marianne Grasberger, dass es ein Hausierer wäre. Einer, der Zeitschriftenabos verkaufen wollte oder Staubsaugerbeutel oder auch Gemüse aus dem kleinen Lieferwagen.
    Sie drückte den Türöffner für den Eingang ins Haus und riss die Wohnungstür auf, bereit, einem jedweden Anbieter mit geharnischten Worten klarzumachen, dass sie nichts brauche, nichts kaufe an der Tür, und wenn sie eine Zeitschrift wolle, sie dann eh beim Spar kaufe, wo sie alles besorge, was sie benötige.
    Sie staunte nicht schlecht, als es sich nicht um einen Hausierer handelte, der da vor ihrer Tür stand, den einen Fuß schon am Fußabstreifer, in der Hand eine Plastiktüte, und sie aus verlegenen Augen ansah.
    »Dann bist du’s also doch!«, entfuhr es Marianne Grasberger. »Ich hab geglaubt, dich abends einmal bei euch vorm Haus stehen gesehen zu haben. Ich hab mir gedacht, das muss er sein. Aber dann hab ich mir wieder gedacht, das kann er gar nicht sein, der ist doch in Australien. Und jetzt bist du es doch.«
    Sie rückte ihren Rock in den Hüften zurecht, ohne sich dessen bewusst zu sein, und starrte Ferdinand an. So viele Jahre, eine endlos lange Zeit, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Und er starrte zurück.
    Sie starrte ihn an,

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