Kalter Süden
mein Büro gehen«, schlug sie vor.
Sie kamen an einem weiteren Stallgebäude vorbei, und Annika hatte ein Déjà-vu nach dem anderen. Ein schlankes Mädchen um die vierzehn mit langen Beinen und glänzenden Reitstiefeln führte ein arabisches Vollblut zur Reitbahn, wo einige Hindernisse von mindestens einem Meter dreißig Höhe aufgebaut waren. Annika verspürte einen Stich von Neid, Missgunst oder einfach nur die Trauer darüber, dass aus diesem Traum etwas hätte werden können, wenn nur die Voraussetzungen andere gewesen wären.
Sie hatte das Reiten geliebt. Und sie war richtig gut gewesen.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Annika bat um einen Schluck Wasser, Carita wählte ein Glas Rotwein.
Sie nahmen in einem kleinen Raum Platz, der hinter einem Café mit angegliedertem Shop lag. Vibeke Jensen setzte sich schwerfällig, lehnte den Stock an ihren Schreibtisch und streckte ihr kaputtes Bein aus.
»Reitunfall«, sagte sie. »Es ist über vierzig Jahre her. Ich habe mich dran gewöhnt, und ich kann trotzdem reiten.«
Annika senkte den Blick.
»Eigentlich sollte Suzette anfangen hier zu arbeiten«, begann Vibeke Jensen und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. Sie waren schwielig und rau von der Arbeit.
»Aber daraus ist nichts geworden. Im Nachhinein gesehen ist es natürlich ein Segen, dass sie nach Hause gefahren ist.«
Die Frau blickte hinaus zu den Ställen, es zuckte leicht um ihre Mundwinkel.
»Suzette war also vor kurzem noch hier, ist dann aber zurück nach Schweden gefahren?«
Vibeke Jensen nickte.
»Sie hat vorige Woche angerufen und mir mitgeteilt, dass sie es sich doch anders überlegt hat. Sie wollte der Schule noch eine Chance geben. Ich muss sagen, dass ich das befürwortet habe.«
Sie legte die Hände vor den Mund.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie.
»Sie kannten die Familie also gut?«, fragte Annika vorsichtig und verkniff es sich, ihren Block herauszuholen.
Die Reitstallbesitzerin schaute aus dem Fenster und ließ den Blick über die Stallungen schweifen, hinüber zu den Eukalyptusbäumen und in die Ferne.
»Nein, nicht besonders«, sagte sie. »Müs Pony steht bei uns, ich weiß gar nicht, was wir jetzt damit machen sollen. Aber Sebastian kannte ich nicht und Veronica eigentlich auch nicht. Bevor sie die Kinder bekam, ist sie selbst geritten, aber dann hat sie immer so viel gearbeitet, und die Zeit hat nicht mehr gereicht. Astrid dagegen …«
Sie verstummte für eine Weile.
»Ich kannte Astrid, seit ich ein kleines Mädchen war. Meine Mutter ging immer mit ihr auf juergas , und ich durfte sie auf Ausflüge begleiten. Ich mochte sie sehr gern.«
»War es Astrid, die sich dafür starkgemacht hat, dass Suzette hier arbeiten durfte?«
Vibeke nickte.
»Astrid war ganz vernarrt in das Mädchen. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Suzette ist eine prima Reiterin und kann gut mit Pferden umgehen …«
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, Vibeke Jensen antwortete mit einem kurzen spanischen Wort.
»Ich muss bald nach Hause«, flüsterte Carita Annika ins Ohr. »Morgen ist doch Dreikönigstag …«
Annika nahm ihre Tasche und stand auf. Hier würde sie nicht weiterkommen.
Vibeke Jensen legte den Hörer auf.
»Wissen Sie, wann Suzette zurück nach Schweden gefahren ist?«, fragte Annika abschließend.
Die Reitstallbesitzerin stützte sich auf ihren Stock und erhob sich mühsam.
»Sie hat vorige Woche angerufen, am Donnerstag, glaube ich. Da sagte sie, dass sie nach Hause fahren würde. Ich nehme an, sie ist gleich darauf geflogen.«
Annika ergriff Vibekes Hand.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie in einem Artikel über die Familie zitiere, oder?«
Vibeke Jensen schüttelte den Kopf.
»Kann ich auch noch ein Foto machen? Draußen vor dem Büro, so dass man die Anlage sehen kann.«
Vibeke fuhr sich durchs Haar und zögerte.
»So, wie ich aussehe?«, sagte sie.
Sie gingen hinaus in die Abendsonne. Die Pferde und die Stallwände glühten im schräg einfallenden Licht.
Annika machte ein paar Bilder von der Frau, die sich auf ihren Stock stützte und über die Felder hinunter zur Straße schaute. Sie bedankte sich und wandte sich zum Gehen.
»Übrigens«, sagte Annika und blieb noch einmal stehen. »Sie erwähnten, dass Veronica so viel gearbeitet hat. Was hat sie eigentlich beruflich gemacht?«
»Sie war Rechtsanwältin«, antwortete Vibeke Jensen, »in einer Kanzlei in Gibraltar. Sie
Weitere Kostenlose Bücher