Kalter Süden
Fernsehkameras liefen. Die Menschen warfen ei-nander vorsichtige Blicke zu und versuchten, traurige Gesichter zu machen.
Annika sah auf die Uhr.
Nach vierzig Sekunden hatte der neue Besitzer genug und schlug die Hände zusammen.
»Dann bedanke ich mich bei allen Gästen und Mitgliedern, auch bei den Repräsentanten der Medien …«, er winkte tatsächlich in eine Fernsehkamera, »… und möchte daran erinnern, dass das Restaurant geöffnet ist, bis …«
»Wir hauen ab«, sagte Annika, dankte Rickard Marmén und steuerte auf den Ausgang zu.
Die Straße ringelte sich am Berg entlang wie eine fette Schlange, gesäumt von breiten Bürgersteigen mit verschnörkelten Laternen. Hier und da stand ein Stromkasten oder ein kleines Wartungshäuschen. In unregelmäßigen Abständen schnitten Querstraßen Wunden ins Grün der Täler. Ansonsten war außer wild wucherndem Gebüsch und großen Disteln nichts zu sehen.
»Wo sind die ganzen Häuser?«, fragte Annika und schaute fasziniert den Berg hinauf.
»Das hier ist eines der Wohnviertel, aus denen nie etwas geworden ist«, erklärte Carita. »Die Pläne waren großartig und die Aussicht phantastisch, aber irgendwann ging ihnen die Puste aus. Mehr als die Straßen haben sie nicht gebaut. Achtung …«
Annika bremste.
Unmittelbar vor ihr war die Hälfte der Straße in den Abgrund gerutscht. Der Bereich um die Abbruchkante war mit ein paar Hütchen und rotweißem Plastikband abgesperrt.
»Himmel«, rief Annika, »darf man hier wirklich fahren?«
»Ja, nur nicht so dicht am Rand«, sagte Carita.
Die Fahrbahn war auch noch an anderen Stellen weggespült worden. Die Straße schlängelte sich weiter den Berg hinauf, streckenweise direkt neben der großen Mautautobahn, dann wieder ein paar hundert Meter oberhalb. Der Regen war auf den Atlantik hinausgezogen, und nun bot sich die atemberaubende Aussicht in ihrer ganzen Pracht dar: das Meer wie ein stahlblauer Teppich zur Linken und das eisengraue Atlasgebirge am Horizont.
Als sie sich dem Reitstall näherten, führte die Straße durch einen halbfertigen Golfplatz. Bagger, Planierraupen und Lastwagen bereiteten den Boden für die gleichen glatten Rasenflächen und künstlichen Seen wie in Los Naranjos.
»Haben die reichen Leute wirklich nichts anderes zu tun, als durch eine Märchenwelt zu spazieren und mit Metallschlägern auf still daliegende Bälle zu dreschen?«, fragte Annika.
»Die spazieren nicht«, korrigierte Carita, »die fahren mit dem Golfcart.«
Sie deutete auf ein Schild mit dem Schriftzug »Club Hípico«, Annika setzte den Blinker und bog rechts ab. Der Parkplatz war voll von teuren Autos. Sie stellten den Wagen hinter einem Range Rover Sport ab und gingen hinüber zu einem niedrigen, weißen Gebäude mit schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern. Linker Hand lagen die Stallungen, große offene Boxen aus dunklem Holz mit schönen, grün lackierten Schmiededetails, darüber riesige Baumkronen. Mädchen mit blonden Pferdeschwänzen huschten zwischen Vollblütern mit schimmernd braunem Fell herum. Ein Pferdepfleger, der eine Schubkarre vor sich herschob, sagte etwas zu einem der Mädchen, und es lachte.
Annika erstarrte.
»Das gibt es doch gar nicht«, sagte sie. »Ich erkenne das genau wieder. Ich bin hier schon einmal gewesen.«
»Sind Sie Reiterin?«, fragte eine Frau auf Dänisch. Sie hatte kurzes graues Haar und rotgeränderte Augen.
Annika sah sie entgeistert an.
»Kingsland und Hööks, die beiden Reitsport-Ausstatter, fotografieren hier nämlich ihre Sommerkataloge.«
Sie streckte die Hand aus.
»Vibeke Jensen«, stellte sie sich vor.
»Annika Bengtzon«, sagte Annika und riss sich von der Kulisse ihrer Mädchenträume los. Über den zerfledderten Katalogen hatten sie und ihre Freundinnen von Reitkleidung und anderem Zubehör geschwärmt, wenn sie einmal wöchentlich auf dem Finntorp-Hof reiten gingen.
»Sie wollen also etwas über Suzette wissen?«, fragte Vibeke Jensen.
Annika sah, dass sie sich schwer auf eine Krücke stützte. Keine von diesen, die man in der Ambulanz bekommt, wenn man einen Unfall hatte, sondern ein schönes, aber abgenutztes Stück aus dunklem Holz. Diesen Stock benutzte sie schon lange.
»Soll ich übersetzen?«, fragte Carita.
»Danke, aber mit Dänisch komme ich zurecht«, sagte Annika, und an Vibeke Jensen gewandt: »Ja, ich habe gehört, dass Suzette hier reitet.«
Die Besitzerin des Reitstalls drehte sich mit einer eckigen Bewegung um.
»Wir können in
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