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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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herumgezupft und anschließend ihre Wimpern getuscht. Während er schon ganz zappelig gewesen war und ins Bad wollte. Aber die Sandra hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Du kannst ruhig neben mir pinkeln, das stört mich nicht, hatte sie ihn gleich zu Beginn ihrer Beziehung wissen lassen. Aber ihn hätte es sehr wohl gestört. Genauso wie die Art, mit der sie sich nicht nur in seinem Badezimmer, sondern in seiner ganzen Wohnung breitmachte und alles mit Beschlag belegte. Sogar die Reindln in der Küche hatte sie umgeschlichtet. Als ob sie schon ein Ehepaar wären, das den gemeinsamen Bausparvertrag abstottert! Na ja, von der Sandra hatte er gottlob seit Tagen nichts mehr gehört, vielleicht hatte sie ja wirklich einen Neuen aufgegabelt beim Adventmarktbummel. Auch gut, er weinte ihr bestimmt keine Träne nach. Andererseits, die Wohnung war schon sehr leer und still, wenn er spät am Abend nach Hause kam. Gerade jetzt, wo er all diese Bilder mit sich herumschleppte. Von dieser Agota, die … Und die anderen, die plötzlich hervorgekrochen kamen, er wusste selbst nicht, warum und woher. Von der Irene, die in der Volksschule neben ihm gesessen war. Mit den blutig abgebissenen Fingernägeln. Die Irene, die in der Pause immer so kokett gewesen war. Viel zu kokett für eine Siebenjährige, das fiel ihm jetzt gerade auf. 30 Jahre danach! Nur wenn ihr Vater draußen vor dem Schultor gestanden war und auf sie gewartet hatte, dann war die Irene richtig verfallen. Der Vater war so ein Ungustl gewesen, der immer Zuckerln dabeigehabt hatte. Aber keines von den Kindern hatte seine Zuckerln haben wollen. Nur die Irene, die hatte immer mit diesem Vater nach Hause gehen müssen. Wo war eigentlich die Mutter gewesen? Komisch, an die konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Und einmal, im Fasching, da hatte die Lehrerin mit ihnen dieses Spiel gespielt, bei dem man mit verbundenen Augen Obst in einem Sackerl greifen und erraten musste. Die Irene hatte nach einer Banane gegriffen und war völlig ausgezuckt. Das fiel ihm plötzlich wieder ein, als ob es erst gestern gewesen wäre. 30 Jahre lang hatte er nicht mehr daran gedacht. Er selbst und die anderen Kinder waren mit offenen Mündern dagestanden und hatten die schluchzende Irene angestarrt. Jetzt stell dich nicht so an, hatte die Lehrerin zur Irene gesagt. Und erst heute wurde ihm klar, was damals …
    Irgendwo im Haus schlug eine Tür, Leo schreckte hoch. Der Chef und die Oberin führten schon die ganze Zeit eine leise Unterhaltung, und er hatte völlig den Faden verloren. Das durfte ihm nicht wieder passieren. Leo spitzte die Ohren.
    »Darüber grüble ich seit vorgestern«, sagte die Frau in dem weißen Kleid gerade. »Nein, mir ist nichts aufgefallen. Nachträglich kann man sich natürlich vieles einbilden. Ihre Stimme war sehr dunkel und irgendwie heiser. Aber dies ist ja kein Haus, in dem viel gesprochen wird.« Sie gestattete sich ein kleines Lächeln, und Pestallozzi lächelte zurück.
    »Nur einmal, da hat sie …« Die Oberin zögerte, dann entschloss sie sich zum Weitersprechen. »Da hat sie ganz plötzlich zu singen begonnen, draußen im Küchengarten, wo unsere Schwester Benedikta ihre Kräuterbeete angelegt hat. Schwester Benedikta hat sie natürlich sofort zur Ruhe ermahnt, Singen ist uns nur während des Gottesdienstes gestattet. Aber ich weiß noch, dass mich die wenigen Takte ihres Liedes sehr berührt haben.« Sie sah auf ihre Hände, die gefaltet auf der Schreibtischplatte lagen. »Damals habe ich mir gedacht, sie könnte wirklich eine Bereicherung für unseren kleinen Chor sein. Aber sie hat während der Andachten nie mitgesungen, sondern ist immer mit gesenktem Kopf ganz hinten in der Bank gesessen.«
    »Haben Sie schon mit den anderen Schwestern über Agota gesprochen? Sie darüber informiert, was mit ihr …« Pestallozzi suchte nach Worten, den richtigen Worten hier in diesem Zimmer mit dem Gekreuzigten an der Wand. Aber die Oberin kam ihm zuvor. »Über ihren Körper, das meinen Sie doch? Nein, das habe ich nicht. Nicht aus Prüderie, falls Sie das annehmen. Sondern aus …«, nun war sie es, die nach Worten suchte, »aus Respekt. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ein Mensch wie Agota hat ganz bestimmt ein Leben lang Getuschel ertragen müssen, das wollte ich ihr wenigstens nach dem Tod ersparen. Aber wir haben uns gestern nach der Vesper zusammengesetzt, und ich habe alle Mitschwestern gebeten, mir ihre Beobachtungen und Gedanken zu

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