Kalter Weihrauch - Roman
zur Brust reichte, und trug eine Schürze, die nicht im Nacken verknotet, sondern über der Brust mit Sicherheitsnadeln festgesteckt war. Ihr freundliches Gesicht ähnelte einem runzligen, von der Sonne gedörrten Apfel, ihre Augen blickten ihnen neugierig entgegen. Schwester Agnes, die viele Jahre lang in Uganda gelebt hatte, ließ sich ganz bestimmt nicht von zwei fremden Männern einschüchtern.
Pestallozzi lächelte ihr zu. »Grüß Gott, Schwester! Wir wollen Sie keinesfalls stören bei Ihrer Arbeit, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Sie wissen ja bestimmt, was vor einigen Tagen unten am See passiert ist, was dem jungen Mädchen aus Ihrem Haus zugestoßen ist. Und deshalb hat uns die Frau Oberin zu Ihnen geschickt, weil Sie doch mit der Agota zusammengearbeitet haben.« Er brachte kein Anliegen vor, sondern ließ der Frau Zeit, sich zu sammeln und selbst einen Schluss zu ziehen. Sie sah ihn an, und Traurigkeit tilgte jäh die Erinnerung von Sonne aus ihrem Gesicht.
»Ja, die Agota«, sagte Schwester Agnes. »Die hat mir in der Küche geholfen, fast ein Jahr lang.« Sie schwieg.
»Wie war sie denn so?«, fragte Pestallozzi sanft.
»Willig und brav. Sehr hilfsbereit, ich hab nur zu deuten brauchen, schon hat sie die schweren Schneidbretter geschleppt und abgewaschen. Die Agota war wirklich eine große Hilfe für mich.«
Pestallozzi nickte bedächtig. »Das glaube ich Ihnen, Schwester. Sie müssen eine Menge Arbeit haben. Für wie viele Schwestern kochen Sie denn eigentlich?«
»Wir sind 15 im Haus. Zwei liegen ja auf unserer Pflegestation, die brauchen ein ganz besonderes Essen. Die Schwester Hortensia kann fast nur mehr Apfelkompott essen. Und Erdäpfelpüree. Sonst koche ich halt, was der Garten und die Vorratskammer hergeben. Heute gibt es Linseneintopf.«
Sie ging langsam und gebeugt zum Herd und nahm den Deckel von dem großen Topf, Duftschwaden stiegen mit dem Dampf auf.
»Das riecht ja köstlich«, sagte Pestallozzi, Leo nickte eifrig. »So gut riechen Linsen normalerweise aber nicht. Ich hab die gar nicht gern gehabt als Kind.«
Die alte Frau lächelte verschmitzt. »Da ist auch Curry drinnen, das macht den besonderen, feinen Geschmack. Und natürlich ein Schuss Essig. Und ein Schwartl vom Speck, das muss sein. Die Benedikta wird sich natürlich wieder beschweren wegen dem Curry, die hat es nicht so gern, wenn ich afrikanisch koch, so nennt sie das immer. Aber unserer Frau Oberin schmeckt es. Möchten Sie probieren?«
»Sehr gern!«
Sie bekamen beide einen Löffel und kosteten. Das simple Linsengericht schmeckte vorzüglich, Leo hätte den ganzen Topf leerlöffeln können.
»Wunderbar! Sie sind ja eine richtige Künstlerin am Herd, Schwester Agnes! Und die Agota …«
»Ach, die Agota! Immer hungrig war sie halt! Immer hat sie Hunger gehabt! Aber damit war sie ja nicht allein auf der Welt.«
»Da haben Sie ganz bestimmt recht! Und sonst, ist Ihnen irgendetwas an ihr aufgefallen? Hat sie sich hier geborgen gefühlt? Oder hat sie vor irgendetwas Angst gehabt? Was denken Sie, Schwester Agnes?«
Die alte Frau wandte sich abrupt ab und begann, Besteck aus einer Lade zu räumen, sodass sie ihr Gesicht nicht mehr sehen konnten.
»Ich glaube schon, dass sie sich bei uns wohlgefühlt hat«, sagte Schwester Agnes. »Wir haben ja nicht viel über sie gewusst, nur, dass sie aus Ungarn gekommen ist, von der Schwester Annunziata. Sie hat nicht viel gesprochen. Aber hier bei mir in der Küche ist sie gern gewesen, ich glaube, dass ich das sagen kann.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Pestallozzi und ließ den Blick durch den warmen Raum wandern. »Sie trocknen hier auch Kräuter, Schwester?«
Sie freute sich sichtlich über diese Frage. »Wohl, und alle sind aus unserem Garten. Manche nehm ich zum Kochen, andere für Tee und Umschläge, und dann brauchen wir natürlich ganz viel davon für unsere Kräuterkissen.«
Still war es im Raum, nur der Linseneintopf blubberte auf dem Herd. Leo stand der Schweiß auf der Stirn. Wie es die beiden Frauen nur unter ihrer dicken wollenen Tracht aushielten? Unter den Hauben? Unmenschlich war das, wie bei den Saudifrauen, die im August vollverschleiert durch die Getreidegasse spazierten. Und jetzt unterhielt sich der Chef auch noch völlig überflüssigerweise in seiner gemächlichen Art über Rezepte und Kräuter. Kräuter? Leo war plötzlich wieder hellwach.
»Das da ist Thymian.« Die alte Schwester deutete gerade auf ein vertrocknetes Büschel. »Und das
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