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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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auf, Leo sprang ebenfalls in die Höhe. Die Frau hinter dem Schreibtisch erhob sich langsam. Plötzlich merkte man ihr die Jahre und das Amt an, die auf ihr lasteten. Die Welt da draußen war in die Stille dieses Hauses eingebrochen, Gewalt und Mord und Sexualität. Aber erzählt nicht die Bibel von gerade diesen Themen, dachte Pestallozzi, während er der Oberin ins Gesicht blickte. Diese Frau wird es jedenfalls aushalten, was auch ans Licht kommen mag. Denn Schmutz wird aufgewirbelt, selbst wenn man in einem klaren Wasser zu stochern beginnt.
    Gemeinsam schritten sie langsam zur Tür. Draußen auf dem Gang wartete bestimmt noch immer Roswitha in der Kälte. Leo ließ die verspannten Muskeln kreisen und straffte seinen Oberkörper. Nicht dass Roswitha ihm bisher auch nur einen Blick geschenkt hätte, aber man musste einfach für alles gewappnet sein. Warum die bloß ins Kloster gegangen war? Um sich hier zu vergraben, bei lebendigem Leib, zwischen lauter …
    »Wäre es möglich, mit Schwester Agnes zu sprechen?«, fragte Pestallozzi. Es war natürlich nur eine Frage aus Höflichkeit.
    »Selbstverständlich.« Die Oberin wollte gerade den Flügel der Doppeltür öffnen, aber Pestallozzi hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Die Ordensfrau und sein jüngerer Kollege starrten ihn an.
    »Wenn Sie mir jetzt ganz spontan einen Satz, nur einen einzigen Satz, zu Agota sagen müssten, wie würde der lauten?«
    Sie sah ihn an, abwehrend, beinahe entrüstet. Dann ließ sie sich auf den Gedanken ein, man merkte es ihrem Gesicht an, das immer sanfter wurde. »Ich würde sagen«, sagte die Oberin, »dass eine große Traurigkeit um diese Agota war. Aber sie hat nicht … sie hat nicht um sich selbst getrauert.«
    Sie wartete nicht ab, ob Pestallozzi mit dieser Antwort zufriedengestellt war, sondern öffnete die Tür. Roswitha erhob sich prompt von ihrer Bank.
    »Roswitha, bitte führe die Herren zu Schwester Agnes in die Küche. Und richte ihr aus, dass ich darum ersuche, alle Fragen mit größtmöglicher Offenheit zu beantworten.«
    Roswitha neigte den Kopf, und die Oberin wandte sich wieder ihren Besuchern zu. »Ich hoffe, unser Gespräch konnte Ihnen helfen. Wir werden Sie und Ihre Arbeit in unsere Gebete einschließen.« Sie blickte beiden Männern mit erhobenem Kinn ins Gesicht, selbst Leo verzog keine Miene. Dann schloss sich die Tür wieder hinter ihren Rücken.
    Sie folgten Roswitha, die mit so einem leichten Schritt voranging, als ob sie kaum den Boden berühren würde. Ihre eigenen Schritte hallten auf den steinernen Fliesen. Einmal wurde eine Tür einen Spaltbreit geöffnet und sofort wieder geschlossen. Leo rollte mit den Augen. Bestimmt eine Nonne, die jetzt zwölf Vaterunser betete, weil Männer in Jeans und nicht in so lächerlichen Nachthemden den geheiligten Klosterboden betreten hatten.
    Roswitha führte sie die steinerne Treppe hinab und den langen Gang entlang. Der Schnee in dem kleinen Innenhof war zu einer von Krähenfüßen gesprenkelten Decke zusammengesunken. Die Luft war so kalt, dass ihr Atem bereits wieder zu Wölkchen gefror. Dafür kam ihnen plötzlich ein Duft entgegen, der überraschend köstlich und warm in ihre Nasen stieg. Roswitha ging auf eine Rundbogentür am Ende des Ganges zu. Dahinter konnte sich alles verbergen, der Keller der Hexe oder die Werkstatt der Engel. Roswitha öffnete die Tür, und sie betraten ein Gewölbe, das aussah wie die Küchen in den altmodischen Puppenstuben. Hölzerne Regale voll Geschirr säumten die Wände, geblümte Vorhänge umrahmten die beiden Fenster. Büschel von getrockneten Kräutern hingen von der Decke, Brotscheiben lagen in Körbchen zum Servieren bereit. Auf einem Herd, der bestimmt schon eine Antiquität war, simmerte es in einem Topf mit dunkelblauem Deckel. Eine kleine Frau im weißen Ordenshabit stand mit dem Rücken zu ihnen über eine Doppelspüle aus Steingut gebeugt und schälte Äpfel. Für die ausgehungerte Agota muss das hier der Himmel auf Erden gewesen sein, dachte Pestallozzi.
    »Schwester Agnes hört schon sehr schlecht«, sagte Roswitha mit einem entschuldigenden Lächeln. Es war der erste Satz, den sie zu ihnen sprach. Sie ging auf die kleine Frau in dem bodenlangen Gewand zu, berührte sie sanft an der Schulter und flüsterte einige Sätze dicht an ihrem Ohr. Die Frau wandte sich um und griff nach einem karierten Tuch, mit dem sie ihre Hände trocknete. Pestallozzi ging langsam auf sie zu. Sie war so klein, dass sie ihm gerade bis

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