Kalter Weihrauch - Roman
haben?
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Sie hatte die Berge so satt! Und das ganze Drumherum! Die Dirndln und die Lederhosen, das Gejodel und Gedodel! Wie satt sie das alles hatte! Aber jetzt glomm ein Licht am Ende des Tunnels, endlich, endlich! Die Kellnerin Suse stemmte sich gegen das Schneetreiben, schräg vornüber gebeugt wanderte sie die Bundesstraße entlang. Autos preschten vorbei und spritzten Dreckfontänen gegen ihre Beine, die in Jeans und Stiefeln steckten, aber keiner hielt an. Im Sommer wäre das garantiert anders gewesen, aber hallo, wenn sie mit ihren knappsten Shorts und einem Top da entlanggelaufen wäre. Dann hätten sie sich alle eingebremst, die Möchtegernkavaliere, und ihre lauen Späßchen gerissen. Darf ich Sie ein Stück mitnehmen, schönes Fräulein? Sie schüttelte sich unter ihrem Anorak.
Na ja, nicht alle im Ort waren ganz so schlimm. Der Loibner zum Beispiel war eigentlich ein richtig netter Kerl, wenn man sein ewiges Poltern ignorierte. Und der Bürgermeister war auch in Ordnung, vor allem, weil er immer so ein schönes Trinkgeld neben dem Teller liegenließ. Und der Öttinger Georg war überhaupt ein richtiger Gentleman. Aber die anderen? Die ihr in den Ausschnitt glotzten und auf den Hintern paschten, als ob sie ein Stück Vieh wäre beim Almabtrieb! Und wenn ihre Frauen dabei waren, dann behandelten sie einen wie Dreck. Wie eine Schlampe. Die Marion hatte schon recht, dass sie dieses T-Shirt trug. Auch wenn das dem Ricardo, dem Pächter vom Tankstellen-Café, gar nicht recht war, diesem Heuchler. Immer sollte man den Männern schöntun, das war gut fürs Geschäft, aber wenn sich dann eine auf die Brust knallte, was Sache war, dann war es auch wieder nicht in Ordnung. Die Marion, das war schon eine! Die Kellnerin Suse lachte in sich hinein, während sie durch den Schneematsch stapfte. Die war immer für einen kleinen Skandal gut! Wie heute, als die Frau Vizebürgermeister an ihr vorbeigerauscht war und nur einen eiskalten Blick auf das Schlampen-T-Shirt geworfen hatte. Und was hatte die Marion da frech gemurmelt, so ganz verächtlich, aber laut genug, dass es alle Umstehenden hören konnten? »Jaja, schau nur. Aber dein Mann liegt bei mir im Bett, und ich mach die Sachen mit ihm, für die du dir zu fein bist.« Der brave Loibner hatte dreingeschaut, als ob ihm ein Kalb mit drei Köpfen begegnet wäre, so schockiert war er gewesen, und alle anderen hatten jetzt wieder was zu tratschen im Wirtshaus. Ob die Marion nicht schön langsam den Bogen überspannte? Wie lang würden sich die Ehefrauen aus dem Ort ihre Frechheiten noch gefallen lassen? Na ja, ihr konnte das egal sein. Suse zog sich das gestrickte lila Band tiefer in die Stirn. Sie hatte ja jetzt einen dicken Fisch an der Angel! Unglaublich, in was sie da hineingestolpert war! Am Anfang war es nur so ein Flirt gewesen wie immer. Aber dann … Natürlich war er verheiratet. Und würde sich nie scheiden lassen, da brauchte sich eine wie sie keine Hoffnungen zu machen. Aber sie hatte einen Trumpf in der Hand. Und was für einen! Zuerst hatte sie die Anzeichen gar nicht richtig gedeutet, aber seit voriger Woche wusste sie es mit 100-prozentiger Sicherheit! Diesen Trumpf würde er ihr ablösen müssen um gutes Geld. Und dann würde sie zurückgehen nach Schwerin, nach Mecklenburg. Und vielleicht ein eigenes kleines Café aufmachen. Oder eine Bar. Jedenfalls auf dem flachen Land, wo es nach Meer roch und nicht nach Kuhmist. Wo keine düsteren Bergriesen einem die Luft zum Atmen raubten. Wo niemand jodelte! Genau, in ihrer Kneipe würde absolutes Jodelverbot herrschen! Sie blieb stehen und sah zum Himmel hinauf, aber es kam ihr nur weißes Gestöber entgegen. Alles wird gut, dachte Suse. Alles wird gut.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ein Auto neben ihr angehalten hatte. Einen Moment lang spürte sie ihr Herz erschrocken pochen, aber dann wurde die Tür geöffnet und der Fahrer beugte sich zu ihr herüber. »Komm, ich nehm dich ein Stück mit bei dem Sauwetter!«
»Ah, du bist’s«, sagte Suse. Sie stieg ein und zog sich das lila Band vom Kopf.
II
Dienstagvormittag, und sie waren schon wieder im Kloster. Im großen Zimmer der Oberin, um genau zu sein. Die Oberin hatte in den vergangenen zwei Nächten nur wenig geschlafen, das war ihr deutlich anzusehen. Denn eine Oberin konnte natürlich nicht mit Makeup tricksen oder den Rougepinsel schwingen, so wie die Sandra das immer getan hatte in der Früh. Dazu hatte sie endlos lang an ihren Augenbrauen
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