Kalter Weihrauch - Roman
Agota mitzuteilen. Es hat nicht den geringsten Hinweis erbracht.«
»Konnte man sich denn mit ihr überhaupt verständigen? Hat sie genug Deutsch gesprochen?«
»Durchaus. Ein sehr reduziertes Deutsch natürlich, das durchsetzt war mit …«, die Oberin suchte nach Worten, »… das durchsetzt war mit derben Ausdrücken. Man muss berücksichtigen, in welchem Umfeld sie aufgewachsen ist.«
Sie schwieg wieder, und Pestallozzi wartete ab. Die Frau ihm gegenüber hatte bestimmt im ganzen vergangenen Jahr nicht so viel sprechen und preisgeben müssen wie in den letzten Tagen. Und sie war in einer Situation, die ihr so fremd sein musste wie ihm das Leben in einem Frauenorden. Sie mussten beide Geduld miteinander haben.
Die Oberin sprach endlich weiter: »Agota war sehr still und scheu. Aber um sie war auch etwas Wildes, etwas …« Sie blickte Pestallozzi an, als ob sie sein Verständnis erheischen wollte. »Um sie war auch etwas Obszönes, ich kann es nicht anders formulieren. Mir fehlt einfach das richtige Wort. Wenn Sie sie gekannt hätten, dann wüssten Sie vielleicht, was ich meine. In ihren Gesten, in ihrer Ausstrahlung. Oder vielleicht habe ich es auch nur so empfunden, weil ich der Welt draußen doch schon entwöhnt bin. Auch wenn ich keine weltfremde Nonne bin, wie Sie das bestimmt annehmen. Ich habe jahrelang in einem Hospiz unseres Ordens gearbeitet. Aber jemand wie Agota ist mir noch nie begegnet. Sie war wie ein wildes Kind, das stillhält, weil es weiß, dass es dafür Essen und ein warmes Bett bekommt.«
Sie schwieg und blickte auf ihre Hände, die gefaltet auf der Tischplatte lagen. Ein Ring schmückte ihre rechte Hand, die Oberin berührte ihn ganz leicht. Es war, als ob sie Kraft schöpfen würde aus dieser kleinen Geste.
»Das war bestimmt nicht immer leicht für Sie und Ihre Mitschwestern«, sagte Pestallozzi leise. »Hat es irgendwelche Vorfälle rund um Agota gegeben?«
»Dass sie einmal im Garten gesungen hat, habe ich ja schon erzählt. Für ein Frauenkloster ist das schon Skandal genug.« Die Oberin lächelte plötzlich die beiden Männer an, beinahe verschwörerisch, die grinsten überrascht zurück. Das ist ja gar nicht einmal so eine Schreckschraube, dachte Leo.
»Und ihr Betragen bei Tisch war, nun ja, gewöhnungsbedürftig, in den ersten Wochen jedenfalls. Man hat gemerkt, dass sie bereits großen Hunger erlebt hat. Wir mussten ihr beibringen, dass es nicht mehr nötig ist, Brot zu … zu horten. Einige Schwestern hat Agotas Benehmen doch etwas irritiert. Aber ich habe mit allen Gespräche geführt und bin auf sehr viel Verständnis gestoßen.«
»Gab es eine Schwester, die Agota eher reserviert gegenübergestanden ist?«
Die Oberin zögerte kurz, dann verschloss sich ihr Gesicht. »Nein, ganz bestimmt nicht!«
»Und gab es eine Schwester, zu der Agota besonderes Vertrauen gefasst haben könnte?«
»Sie hat Schwester Agnes in der Küche geholfen. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden sehr gut miteinander auskamen. Schwester Agnes ist schon über 80, sie hat viele Jahre in unserer Missionsstation in Uganda gearbeitet. Ihre Rezepte sind manchmal ein wenig exotisch, aber sie betreut die Küche wirklich mit Umsicht. Schwester Agnes ist eine große Stütze für unser Haus. Und auch Agota hat sich bei ihr offenbar wohlgefühlt.«
Pestallozzi nickte und klappte den Spiralblock zu, auf dem er ab und zu gekritzelt hatte. Leo hatte es immer noch nicht durchschauen können, nach welchen Gesichtspunkten sich der Chef Notizen machte. Am Schluss hatte er jedenfalls immer alle Fakten parat, einfach phänomenal!
»Was Ihr Haus in Ungarn betrifft, so …«, begann Pestallozzi.
»Ich habe bereits mit Schwester Annunziata gesprochen«, sagte die Oberin. »Sie kann jederzeit anreisen, um für eine Befragung zur Verfügung zu stehen.«
»Danke, aber das wird nicht nötig sein«, wehrte Pestallozzi liebenswürdig ab. »Mein Kollege und ich werden uns vor Ort umsehen und dort auch mit Ihrer Mitschwester sprechen.«
Leo starrte den Chef an. In Ungarn? In der Puszta? Musste das wirklich sein? Die Oberin schien genauso verblüfft zu sein und, man sah es ihr deutlich an, nur mäßig erbaut von dieser Idee. Pestallozzi schien das alles nicht zu bemerken.
»Nun, selbstverständlich liegt es in Ihrem Ermessen, ob Sie diese Fahrt unternehmen wollen«, sagte die Frau endlich. »Wir haben nichts zu verbergen. Ich werde Schwester Annunziata Ihr Kommen ankündigen.«
»Vielen Dank.«
Pestallozzi stand
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