Kalter Zwilling
hatten, endete dieses Persönlichkeitsprofil nur allzu oft in Gewalt und Verbrechen.
Emily runzelte nachdenklich ihre Stirn. In einer großangelegten Studie hatte einer der bekanntesten deutschen Forscher von der Universität Tübingen herausgefunden, dass die Gehirne von Psychopathen anders funktionierten als die »normaler« Menschen. Mit Hilfe der Kernspintomografie hatte er hunderte Gehirne detailliert untersucht. Die Ergebnisse waren bahnbrechend.
Hat ein »normaler« Mensch Angst, werden bestimmte Areale im Gehirn aktiviert. Für Angst sind es insbesondere die Insula, die Amygdala und der orbitofrontale Kortex. Dort feuern Nervenzellen, wenn wir Angst empfinden, tausende von Signalen ab. Verbrennen wir uns beispielsweise am Lagerfeuer die Finger oder fallen beim Balancieren über einen dünnen Steg ins tiefe Wasser, kann der Kernspintomograf eine Aktivität in den für Angst relevanten Gehirnbereichen nachweisen.
Bei einem Psychopathen hingegen herrscht bei gleichen Situationen absolute Funkstille. Er kann keine Angst empfinden. Da ihm dieses Gefühl völlig fremd ist, kann der Staat selbst mit Androhung der Todesstrafe keinen gewalttätigen Psychopathen zu einer Verhaltensänderung bringen. Er ist unfähig, aus einer erlittenen Gefängnisstrafe zu lernen. Das macht ihn so extrem gefährlich und ist auch ein Grund dafür, warum psychopathische Straftäter viel häufiger rückfällig werden als andere Kriminelle.
Interessiert las Emily die Studie zu Ende. Sie musste an den Puzzlemörder denken. Über ihn hatte sie ihre erste Reportage geschrieben. Im Mittelalter hatte er das kleine Städtchen Zons in Angst und Schrecken versetzt. Er war auf der Jagd nach jungen Mädchen, die er zuerst vergewaltigte, mit dubiosen Zeichen entstellte und anschließend tötete. Bastian Mühlenberg, der Ermittler der Stadtwache, war ihm damals dicht auf den Fersen, doch bevor er ihn dingfest machen konnte, verschwand der Puzzlemörder spurlos. Noch während Emily mit der Veröffentlichung ihrer Reportage beschäftigt war, tauchte in der Gegenwart ein Nachahmungstäter auf. Diesem wäre fast ihre beste Freundin Anna zum Opfer gefallen, wenn nicht ein glücklicher Umstand jenem Psychopathen einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Die beiden jungen Frauen kannten den Täter sehr gut und hielten ihn für einen Freund. Nie im Leben wären sie auf die Idee gekommen, dass eine Gefahr von ihm ausging. Er ist auch ein Psychopath, dachte Emily, und war in diesem Moment froh, dass Christopher mittlerweile hinter Schloss und Riegel saß.
Emily druckte sich die Kontaktdaten der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie aus. Am nächsten Tag würde sie Professor Morgenstern, dem Leiter der Klinik, einen Besuch abstatten. Er schien Experte auf dem Gebiet der psychopathischen Persönlichkeitsstörung zu sein. Vielleicht stellte er ihr sogar ein paar interessante Patienten vor, die sie für ihre neue Reportage interviewen konnte.
...
Er hasste dieses Zimmer. Es bestand zur Hälfte aus Dachschrägen, die den Raum viel kleiner erscheinen ließen. Aber das Schlimmste waren die Dachfenster. Sobald es anfing zu regnen, prasselten unaufhörlich Regentropfen auf die Glasscheibe. Tropf, Tropf, Tropf ...
Er konnte dieses Geräusch nicht ertragen. Es machte ihn wütend. Er hatte bereits alles versucht, um die Tropfgeräusche zu dämmen. Sogar sein Kopfkissen hatte er von außen ans Fenster geschnallt, aber der Wind war zu stark gewesen. Keine fünf Minuten später lag das Kissen im Garten und er musste die hämmernden Tropfen erneut ertragen. Tropf, Tropf, Tropf ...
Adrian war mit seinen Nerven am Ende. Er spürte, wie das Ungeheuer in ihm erwachte. Krampfhaft versuchte er, sich daran zu erinnern, was dieser dämliche Psychiater ihm geraten hatte. Zählen! Er sollte anfangen, langsam zu zählen. Seine Lippen formten sich zur ersten Zahl: eins ... zwei ... drei ...... dreiundzwanzig ... vierundzwanzig ... fünfundzwanzig. Stopp. Das musste reichen.
Adrian lauschte in sich hinein. Das Ungeheuer war stehengeblieben, aber er konnte es immer noch deutlich fühlen. Er musste weiterzählen. Langsam begann er von vorne. Immer lauter sagte er die Zahlen auf. So laut, dass seine Stimme die Tropfen übertönte. Gerade als er anfing, in einen angenehmen Rausch zu verfallen, wurde seine Zimmertür aufgerissen. Eine Schwester in weißer Tracht blickte ihn besorgt an. Da konnte er das Ungeheuer nicht mehr aufhalten. Mit einem gewaltigen
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