Kalter Zwilling
Satz sprang es heraus und stürzte sich auf die Frau. Er hatte sie hier noch nie gesehen, und obwohl Adrian wusste, dass es sein Verderben sein könnte, ließ er das Ungeheuer gewähren.
Die Stimme der Vernunft tief in seinem Innersten versuchte flehend, ihn zurückzuhalten. Doch als er die Angst der Frau in ihren weit aufgerissenen Augen erkannte und ihr hilfloses Schluchzen hörte, war es zu spät. Er genoss jeden Moment.
...
»Verdammt, Frau Winterfeld, was haben Sie sich nur dabei gedacht? Sie hätten sterben können, ist Ihnen das klar?«
Bettina Winterfeld richtete den Kopf auf und nickte. »Sie haben vollkommen recht, Herr Morgenstern. Das war völlig naiv von mir.«
Professor Morgenstern schüttelte ärgerlich den Kopf, legte jedoch gleichzeitig sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Naja, es ist ja alles noch einmal gutgegangen. Ich darf mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Nils Wengler nicht zufälligerweise in der roten Etage zu tun gehabt hätte.«
Die rote Etage, so nannten alle hier den gesicherten Bereich der geschlossenen Abteilung. Hier wurden die besonders schweren Fälle hinter Schloss und Riegel gehalten. Nicht wenige Patienten, viele davon ehemalige Straftäter, befanden sich in der sogenannten Sicherungsverwahrung. Auch nach Verbüßung ihrer Strafe galten sie als so rückfallgefährdet, dass sie lebenslang eingesperrt werden mussten. Dem Personal war es streng untersagt, die Zimmer dieser Insassen alleine zu betreten. Bettina Winterfeld war zwar neu hier, hatte aber zuvor jahrelang in einer großen psychiatrischen Klinik in Köln gearbeitet und kannte sich mit solchen Fällen eigentlich bestens aus. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie die Regeln missachtet hatte und ohne Begleitung in dieses Zimmer gestürmt war.
Zunächst hatte sie einfach nur eine männliche Stimme gehört, die schleppend von eins bis fünfundzwanzig zählte. Die Stimme wiederholte diese Zahlenreihen ständig und wurde dabei immer schriller und lauter. Sie glaubte, ein verzweifeltes Röcheln wahrzunehmen und war einem plötzlichen Impuls folgend einfach losgestürmt. Als ihr Verstand wieder einsetzte, hatte er sich schon auf sie gestürzt. Ein junger Mann mit hübschem, zarten Gesicht, dunklen Locken und grünen Augen hatte sie wie ein Wahnsinniger malträtiert, noch bevor sie sich überhaupt rühren konnte. Sie war so fasziniert von seinem Anblick, dass sie alle Vorsicht vergessen hatte.
Zum Glück hatte der Pfleger Nils Wengler schmutziges Geschirr von der letzten Schicht in der winzigen Küche der roten Etage vergessen, welches für das Frühstück am nächsten Morgen unbedingt noch zum Reinigen in die Großküche gebracht werden musste. Ansonsten hätte Bettina Winterfeld den nächsten Tag mit großer Sicherheit nicht mehr erlebt. Erneut schüttelte sie den Kopf, entsetzt über ihr unüberlegtes Handeln. Sie war jetzt 50 Jahre alt und sah für ihr Alter immer noch attraktiv aus. Ihr lockiges Haar wirkte nicht mehr ganz so voll wie vor ein paar Jahren. Die Krähenfüße um ihre Augenwinkel hatten sich im Laufe der Jahre tiefer in die Haut gegraben. Dennoch strahlte ihr Gesicht immer noch die jugendliche Kraft aus, die sie als junge Frau zu einer Schönheit gemacht hatte. Professor Morgenstern blickte sie immer noch mit einer Mischung aus Verärgerung und Mitleid an.
»Am besten, Sie ruhen sich heute erstmal aus. Machen Sie sich einen schönen freien Tag und erholen Sie sich von dieser Attacke. Ich werde dafür sorgen, dass Sie in den nächsten Wochen von der roten Etage fernbleiben und den Dienstplan anpassen.«
Bettina nickte erleichtert. Offenbar hatte Professor Morgenstern nicht vor, sie verantwortlich zu machen. Da sie neu in dieser Klinik war und sich noch in der Probezeit befand, hatte sie sich bereits Sorgen um eine Entlassung oder zumindest eine Abmahnung gemacht.
Als wenn der Professor ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Frau Winterfeld, das, was Sie da letzte Nacht erlebt haben, war Strafe genug. Ich wünsche niemanden, dem Bösen so nahe zu kommen. Ich weiß, dass Ihnen ein solcher Fehler nie wieder unterlaufen wird. Also machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Und jetzt gehen Sie nach Hause und ruhen sich aus.«
Er sah ihr bei diesen Worten offen in die Augen und Bettina konnte spüren, dass er es ehrlich meinte.
»Dafür bin ich Ihnen wirklich aufrichtig dankbar, Professor Morgenstern. Ich verspreche Ihnen, dass so etwas nie wieder
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