Kalter Zwilling
Luftzug fuhr plötzlich durch den Raum und zauberte eine Gänsehaut auf ihre nackte Haut. Verwundert öffnete sie die Augen. Hatte sie vergessen, die Tür zu schließen? Der Luftzug verschwand und Bettina überließ sich wieder den wärmenden Wasserstrahlen, die gleichmäßig über ihren Körper flossen. Das Gitter des Lüftungsschachtes, welches auf der anderen Seite des Raumes angebracht war, vibrierte. Doch Bettina hatte die Augen längst wieder geschlossen und nahm nichts außer der Wärme des Wassers wahr.
Zehn Minuten später stand sie vollständig bekleidet im Umkleideraum des Schwesternzimmers und wollte gerade die Tür zum Flur öffnen, als sie ein Geräusch hörte. Ob das Nils Wengler war, der sich im Nebenraum ebenfalls duschen wollte? Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und lauschte. Der Flur war dunkel. Um diese Uhrzeit spendete nur eine energiesparende Notbeleuchtung Licht für die Angestellten der psychiatrischen Klinik. Da Bettina nichts hören konnte, schlich sie auf Zehenspitzen zum Nachbarraum und klopfte leise. »Nils? Sind Sie noch da?«
Keine Antwort. Bettina drückte die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Nils war schon weg. Sie hatte lange geduscht, wahrscheinlich lag er längst im Bett und schlief. Bettina drehte sich um und wollte in Richtung Ausgang laufen, als sie erneut ein Geräusch hörte. Es war eine Stimme. Ob der Psychopath aus der roten Etage wieder zählte? Bettina blickte durch ein Fenster nach draußen. Es regnete nicht. Mittlerweile hatte sie herausgefunden, dass Adrian Helmhold immer dann laut zählte, wenn es regnete. Offenbar hatte er ein Problem mit den Regentropfen, die auf sein Dachfenster prasselten. Er konnte dieses Geräusch nicht ertragen. Bettina wunderte sich. Sie befand sich im Erdgeschoss der Klinik und die rote Etage war fünf Geschosse über ihr. So weit entfernt würde sie seine Stimme sicher nicht hören können. Und es regnete ja nicht einmal.
Wieder drangen undeutlich Worte an ihr Ohr. Sie kamen aus der ersten Etage. Dort waren die Büros untergebracht. Aber wer sollte um diese Uhrzeit arbeiten? Bettina ging vorsichtig die Treppe hinauf und betrat den Flur. Sofort fiel ihr ein schmaler Lichtstrahl ins Auge. Er kam aus dem Büro von Professor Morgenstern, dessen Tür nur angelehnt war. Aus dem Raum war jetzt ganz deutlich eine Männerstimme zu vernehmen.
»Das hättest du nicht tun sollen! Kannst du nicht aufpassen?« Die Stimme klang scheidend, bösartig.
Bettina setzte ängstlich einen Fuß vor den anderen. Sie wollte wissen, wer dort in diesem Büro war. Eine innere Stimme riet ihr, auf der Stelle zu verschwinden, doch ihre Neugier trieb sie direkt auf das Licht zu. Mit rasendem Herzen neigte sie den Kopf und warf einen Blick in das Büro.
Professor Morgenstern stand mit nacktem Oberkörper vor einem Spiegel und schnitt sich mit einem Messer die Haut auf. Blut lief in mehreren Rinnsalen über seinen Oberarm und tropfte auf die graue Anzughose, die er immer noch trug. Bettina unterdrückte einen Schrei und drehte sich auf der Stelle um.
»Ist dort jemand?« Professor Morgensterns Stimme klang jetzt drohend. Doch Bettina war schon am unteren Ende der Treppe angekommen und lief barfuß auf den Ausgang zu. Ihre Schuhe hatte sie in die Hand genommen, damit er ihre Schritte nicht hören konnte. Bettinas Herz beruhigte sich erst, als sie in ihrem Wagen saß und den Motor anließ. Sie verriegelte die Türen von innen und fuhr ohne Licht los, um nicht gesehen zu werden. Erst als der Wagen in die Landstraße einbog, schaltete sie die Scheinwerfer ein. Bettina zitterte. Wie in einer Endlosschleife kreiste eine einzige Frage durch ihr Gehirn: War das wirklich Professor Morgenstern, den sie gerade beobachtet hatte?
...
Klaus Gruber malte sorgfältig Linien auf das Whiteboard, das in seinem Büro an der Wand hing. Er schaute auf die Uhr. Oliver Bergmann musste jede Sekunde hier eintreffen und bis dahin wollte er die wichtigsten Eckdaten der Ermittlung notiert haben. Sie hatten einen Hauptverdächtigen, der gerade verhört wurde: Ronny Hammerschmidt. Klaus umrandete den Namen mit einer roten Linie. Er hatte eindeutige Verbindungen zu allen drei Opfern. Er war Stammkunde bei Sophia Koslow und er hatte seine Kinder durch künstliche Befruchtung mit Hilfe von Professor Neuhaus und Hans-Peter Mundscheit zeugen lassen. Des Weiteren war er genau zu jenem Zeitpunkt vor gut einem Jahr in St. Paul in den USA gewesen, als dort ein ähnlich
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