Kaltes Fieber - Ein Lucas-Davenport-Roman
die Zeigefinger auf sein Gesicht.
»Ich sage dir«, knurrte George Hyde und stieß den Zeigefinger bis dicht vor Lucas’ Nase, »diese Liste ist unglaubwürdig. Absolut unglaubwürdig. Dringt das bis zu deinen Gehirnzellen vor, Lucas Davenport? Kapierst du das?«
Hydes Kumpel Ira Shapira sagte: »Weißt du was, Lucas? Du lässt die Beatles raus und bringst Folk rein. So was wie ›Heart of Saturday Night‹ … Das ist echter Folk.«
»Tom Waits reißt dir den Arsch auf, wenn er hört, dass du so was vorschlägst«, erwiderte Lucas. »Mal abgesehen davon ist ›Heart of Saturday Night‹ natürlich ein echt guter Song …« Er hob sein leeres Glas einer Kellnerin entgegen, die bestätigend nickte. »Ich behaupte ja nicht, dass das eine perfekte Liste ist. Es ist schließlich ja nur ein Versuch, und …«
»Die Liste ist Scheiße«, unterbrach Hyde. »Sie hat keine musikalische, historische oder ethische Basis.«
»Und auch keine sexuelle«, ergänzte Shapira.
Lucas war ein groß gewachsener Mann mit kalten blauen Augen und dunklem, von grauen Strähnen durchzogenem
Haar. Sein Gesicht wies mehrere Narben auf, darunter eine besonders markante, die vom Haaransatz über eine Augenbraue bis zur Wange verlief. Eine andere schlängelte sich gezackt über seine Kehle; ein junges Mädchen hatte ihm in den Hals geschossen, und eine zufällig anwesende Ärztin hatte ihm mit dem Taschenmesser die Luftröhre aufschlitzen müssen, um ihn vor dem Erstickungstod zu bewahren. An einem seiner Schneidezähne war ein kleines Stück abgebrochen, und er war insgeheim überzeugt, er verfüge über ein freundliches, ja sogar gefälliges Lächeln, aber schon mehrere Frauen hatten ihm gestanden, sein Lächeln jage ihnen irgendwie Angst ein.
Er trug einen leichten grauen Sommeranzug von Prada, Wolle mit Seide, darunter ein blassblaues Seidenhemd mit offenem Kragen, dazu schwarze Schuhe; das Aussehen eines betuchten, sportlichen Mannes. Er war als Collegestudent tatsächlich ein guter Sportler gewesen, Verteidiger im Eishockeyteam der Universität von Minnesota. Lucas war auch jetzt noch fit und durchtrainiert, hatte aber den Winter über sechs Pfund zugelegt. Diese Pfunde hatten das Frühjahr und auch den Sommeranfang überdauert, und er hatte sich schließlich zu einer Diät bequemen müssen - der so genannten »South Beach Diet«, die er für ziemlich blödsinnig hielt, aber sie war ihm von seiner Frau mit Nachdruck empfohlen worden, kurz bevor sie mit Kind und Kegel in die Fremde aufgebrochen war.
Er lehnte sich zurück, kaute hastig auf dem letzten Bissen des Cheeseburgers, sehnte sich nach den Donuts. Seit einer Woche hatte er keine Kohlenhydrate mehr zu sich genommen. Er schluckte, hielt dann die Hände weit auseinander, sagte in ernstem und rational erklärendem Ton: »Hört zu, Jungs … Rock und die mit ihm assoziierte Musik ist in zwei große Strömungen einzuteilen. In der ersten finden wir Pat Boone, Doris Day, die Beatles, Donny und Marie Osmond,
die Carpenters, Sonny und Cher, Elton John und Tiffany, oder wie die Frau heißt - die ohne Magen. Alles Typen, über die man eigentlich nur lachen kann … Zur anderen Strömung gehören Chuck Berry, Elvis Presley, die Rolling Stones, Tina Turner, Aerosmith, Tom Petty. Solche Leute.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Das sind die Leute, die ich vorziehe. Ich nehme an, ihr beide gehört wohl eher zu den Anhängern der, na ja, Da-lacht-man-drüber-Fraktion.«
»Was?«, schrie Hyde. Einige Leute an der Bar drehten ihnen die Köpfe zu, sahen mit gelangweiltem, schwerlidrigem Ist-der-noch-bei-Trost-Blick zu ihnen herüber. Im Hintergrund brüllte der Manager ins Telefon: »Es ist mir scheißegal, was auf der Grand Avenue los ist, ich will in drei Minuten ein Team von Ihnen vor meiner Tür haben, sonst …«
»Wenn du so gegen diese angeblichen Lachnummern bist, warum hast du dann die verdammten Eagles auf deiner Liste?«, fauchte Shapira. »Mein Gott, diese dämlichen Eagles!«
»Nur ihren Song ›Lyin’ Eyes‹«, sagte Lucas und sah zur Seite. »Ich fühle mich nicht gut dabei, aber wie kann man diesen Song übergehen?«
Hyde seufzte, nickte, trank einen großen Schluck. »Ja, das stimmt. Wo du Recht hast, hast du Recht.«
»Ein Stück Country-Quatsch, wenn man mich fragt«, knurrte Shapira.
»Einer der besten Songs der letzten fünfzig Jahre«, widersprach Lucas. »Der Rolling Stone hat eine Übersicht über die besten 500 Rocksongs veröffentlicht. Auf der Liste
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