Kaltes Grab
gehört, dabei hatte Kemp mit der Ermordung ihres Sohnes zu tun. An jenem frühen Morgen war Blut auf den Straßen gewesen, im Schnee. Und nun lag Blut auf dem Irontongue Hill.
»Mr Lukasz«, sagte er, »ich muss Sie noch einmal zu einer Identifikation ins Leichenschauhaus bitten.«
Sämtliche Mitglieder der Familie Lukasz erstarrten mitten in der Bewegung. Grace wirbelte ihren Rollstuhl herum, um Cooper anzusehen, Peter legte die Fernbedienung beiseite, Krystynas Küchenmesser verharrte in der Luft. Cooper drehte sich um und sah zum Wintergarten. Zygmunt fixierte ihn mit seinen blassblauen, wissenden Augen. Der alte Mann hob den Kopf, und sein Unterkiefer spannte sich trotzig an. Der Hund hockte mit einem dünnen, rosafarbenen Keks im Maul, den er durchs Zimmer geschleift hatte, neben Zygmunts Stuhl. Der Keks war
schmutzig, aber das Relief auf seiner Oberfläche war immer noch zu erkennen - ein Bild aus der Weihnachtsgeschichte. Cooper erkannte es als Abwandlung einer Oplatek-Waffel.
»Vergebung für die Tiere?«, fragte er.
Zygmunt Lukasz sprach zum ersten Mal in Coopers Gegenwart englisch. »Natürlich«, erwiderte er. »Es waren schließlich Tiere in dem Stall, in dem Jesus geboren wurde.«
»Allerdings«, sagte Cooper. »Und Tieren kann man viel leichter vergeben.«
Ben Cooper war noch nie im Nebenhaus gewesen, wo Mrs Shelley wohnte, sondern war ihr immer nur bei sich in Nummer 8 begegnet. Natürlich sah Nummer 6 von außen ganz genauso aus, abgesehen davon, dass es nur eine Klingel gab.
»Sie ist ein bisschen eigen«, sagte er. »Kann sein, dass sie am Anfang überhaupt nicht versteht, was wir sagen.«
»Da haben wir ja Glück, dass sie wenigstens weiß, wer du bist«, sagte Diane Fry.
»Auch da bin ich mir nicht so sicher. Gut möglich, dass sie mich nicht mit der Polizei in Verbindung bringt. Für sie bin ich der junge Mann, der sich um ihre Katze kümmert.«
»Dann bist du ja am Ende doch noch befördert worden, Ben.«
Cooper drehte sich zu ihr um. Ihr Spott gefiel ihm nicht besonders. Aber er sah ihr deutlich an, dass sie ihre Worte bereits bereute.
»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern anschließend noch Alison Morrissey im Cavendish Hotel besuchen«, sagte er.
Fry wich seinem Blick aus. »Sie ist weg«, sagte sie. »Sie hat heute Morgen einen Flug zurück nach Toronto genommen.«
»Wie bitte?«
»Tut mir Leid, Ben. Wir hielten es für das Beste.«
»Wer ist wir?«
»Ich habe gestern mit ihr gesprochen, nachdem wir Frank Baine festgenommen haben. Ich habe gesehen, wie du sie zum
Hotel zurückgebracht hast, und ich glaube, sie hat sich bereits von dir verabschiedet.«
Cooper bemerkte, dass er mit offenem Mund dasaß und kalte Wut in ihm aufstieg. Doch bevor er eine Erklärung verlangen konnte, öffnete sich die Tür von Nummer 6, und Mrs Shelley sah sie mit gerunzelter Stirn an.
»Ja, bitte?«
Sie hörten den Terrier hinter dem Haus bellen. Sogar im Flur war der Lärm ohrenbetäubend. Cooper war für die massiven Wände dankbar, die verhinderten, dass der Lärm ins Nebenhaus drang. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu Marie Tennents Haus, dessen Mauern so dick waren, dass die Nachbarn kein Baby schreien gehört hatten.
»Mrs Shelley, wir müssen mit Ihnen über Lawrence Daley sprechen«, sagte Fry, als ihr auffiel, dass Cooper keinen Ton herausbrachte.
»Lawrence?«, sagte Mrs Shelley, als würde die Wiederholung des Namens seinem Klang eine Bedeutung verleihen. »Lawrence?«
»Ihr Neffe.«
»Ist etwas passiert? Hat es im Buchladen gebrannt? Ich habe ihm immer gesagt, dass er dort in einer tödlichen Falle sitzt. Die vielen Bücher... es braucht nur jemand eine Zigarette oder ein Streichholz fallen zu lassen, schon steht alles lichterloh in Flammen. Das hab ich ihm mehr als einmal gesagt.«
»Nein, es hat nicht gebrannt, Mrs Shelley. Dürfen wir einen Moment reinkommen? Das ist besser, als hier auf der Schwelle zu stehen.«
»Natürlich. Möchten Sie einen Tee?«
»Gute Idee, aber lassen Sie uns das Wasser aufstellen.«
»Warum das denn? Ich kann meinen Teekessel immer noch selbst aufstellen.«
»Mrs Shelley, wir haben leider eine schlechte Nachricht.«
Mrs Shelley starrte sie an. Ihr Mund bewegte sich kaum merklich, während sie zu begreifen versuchte, was Fry eben gesagt hatte. Cooper rechnete damit, dass sie ihn gleich nach der Katze fragen würde.
»Er kann nicht tot sein«, sagte sie. »Das ist unmöglich. Doch nicht beide.«
»Beide?«, fragte Fry.
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