Kaltes Grab
und den Geschmack nicht mehr festhalten, nicht einmal mehr dieses eine überwältigende Gefühl, das so übermächtig geworden war, dass es ihre gesamte Vorstellung erfüllte … und sich ihr dennoch entzog. War es Kummer oder Zorn, Angst oder Scham? Oder war es nur diese stete, unbestimmbare Sehnsucht, die sie ihr ganzes Leben lang heimgesucht hatte?
Marie hatte vergessen, wie es dazu gekommen war, dass sie jetzt im Schnee lag, doch sie wusste, dass es einen Grund gab, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Sie wusste auch, dass es etwas mit Sugar Uncle Victor zu tun hatte. Aber die Finger aus Eis wrangen unbarmherzig jedes Bewusstsein aus ihr heraus, und bald schon würde sie überhaupt nichts mehr wissen.
Marie bemerkte nicht, dass ihre Blase nachgab und einen warmen Strom entließ, der einen unregelmäßigen Schneefleck auftaute. Bald darauf stellten auch alle anderen körperlichen Empfindungen ihre Funktion ein. Als Maries Haut gefror und ihr Blut langsam eindickte, wichen sogar die imaginären Geräusche hinter die Wahrnehmungsschwelle ihrer Sinneseindrücke zurück. Die Schritte verblassten und die Stimmen verstummten, weil niemand mehr da war, der sie hörte. Maries Herzschlag verlangsamte sich, bis die Klappen nur noch nutzlos flatterten und kein Blut mehr durch ihren Körper pumpten.
Schließlich war Marie Tennent nur noch ein Fleck, wie ein Sandkorn, das auf den öligen Rückständen der Erinnerung trieb. Dann strudelten auch diese letzten Reste durch ein Loch weit hinten in ihrem Bewusstsein und waren verschwunden.
Zum fünften Mal spähte Ben Cooper zur Ecke Hollowgate und High Street hinüber. Die Ampel hatte auf Grün geschaltet, aber die Fahrzeuge hatten sich mitten auf der Kreuzung verkeilt.
»Wo bleibt denn nur der Wagen?«, brummte Cooper und tastete nach dem Funkgerät in seiner Tasche. Er überlegte, ob es die Sache wert war, den Kollegen in der Zentrale die Laune mit einer Beschwerde über die lange Verzögerung noch mehr zu verderben. »Er müsste schon längst hier sein.«
Eddie Kemp trug schwarze Gummistiefel mit über die Ränder gerollten Wollsocken, und sein Mantel war lang genug, um seit damals, als er ihn in einem Armeeladen gekauft hatte – höchstwahrscheinlich um 1975 herum –, schon zwei- oder dreimal wieder in Mode gekommen zu sein.
Es sah aus, als wäre er bestens gegen die Kälte gerüstet. Er hatte bestimmt trockene Füße.
»Wir können ja ein Taxi herwinken«, schlug Kemp vor. »Oder wir nehmen den Bus. Haben Sie Kleingeld dabei?«
»Klappe.«
Etwas weiter unten auf der High Street war der Verkehr noch in Bewegung. Autos krochen durch die weißen Wirbel, die an ihren Scheinwerfern vorüberstoben. Eine ältere Dame mit pelzgefütterten Stiefeln suchte sich im Rinnstein einen Weg über den Schnee. Einen Augenblick musste Cooper an seine Mutter denken. Er hatte sich geschworen, am Abend so lange mit ihr zu reden, bis sie begriffen hatte, dass es ihm ernst damit war, aus der Bridge End Farm auszuziehen. Gleich nach Dienstschluss wollte er zu ihr gehen.
»Ich gehe auf keinen Fall den ganzen Hügel da zu Fuß rauf«, sagte Kemp. »Das ist viel zu gefährlich bei dieser Witterung. Ich könnte ausrutschen und mich verletzen. Dann könnte ich Sie verklagen. Ich könnte der Polizei Tausende Pfund abknöpfen.«
Cooper wäre am liebsten ein Stück von Kemps überwältigendem Körpergeruch abgerückt, doch er traute sich weder seinen Griff zu lockern, noch seine Position links hinter dem Gefangenen zu verlassen.
»Halten Sie die Klappe«, sagte er. »Wir warten auf den Wagen.«
Er war sich der Gäste bewusst, die ab und zu aus dem Café herauskamen und die Türglocke auslösten. Zweifellos blieben sie allesamt kurz auf der Schwelle stehen und starrten die beiden Männer auf dem Gehsteig an. Cooper verlagerte das Gewicht. Als er den Fuß aufsetzte, spürte er den Schneematsch in seinem linken Schuh hochquellen.
»Vielleicht ist der Wagen kaputt«, meinte Kemp. »Vielleicht ist er nicht angesprungen. Sie wissen ja, wenn es morgens so kalt ist, ist das die Hölle für diese billigen Autobatterien.«
»Er kommt bestimmt gleich.«
Auf der gegenüberliegenden Seite der Hollowgate befreiten die Ladenbesitzer den Bürgersteig vor ihren Geschäften vom Schnee und schaufelten ihn zu hässlichen Haufen in den Rinnstein. Die Schönheit des Schnees war dahin, sobald ihn ein Fuß oder der erste von einem Lastwagen aufgeworfene Matschschwall berührt hatte. Bei Tagesanbruch wäre er bis
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