Kaltes Grab
Besaß Marie einen Hund? Aber laut Hausverwaltung wohnte sie erst anderthalb Jahre hier. Der Hund hatte vielleicht einem früheren Mieter gehört. Cooper konnte nirgendwo Hundehaare entdecken, weder auf den Möbeln noch auf dem Teppich. An der Außenwand war ein kleiner feuchter Fleck auf der Tapete, der aber nach schlechter Instandhaltung aussah. Auch die Fenster waren schon seit geraumer Zeit nicht mehr geputzt worden. Die Aussicht auf die verrammelten Häuser gegenüber war trübe und verschmiert und mit kleinen Bröckchen schmutzigen Schnees und trockenen Streifen Vogelkot gesprenkelt.
Cooper ging in den Flur zurück und inspizierte den Schrank unter der Treppe, wo er den Thermostat für die Zentralheizung fand. Er war so eingestellt, dass die Heizung um neun Uhr morgens ausging und um drei Uhr nachmittags wieder ansprang. Umsichtigere Selbstmörder hätten in der Gewissheit, dass am Nachmittag niemand mehr da sein würde, der es warm haben wollte, die Zentralheizung ganz abgestellt, um nicht unnötig Gas zu verbrauchen. Anderen, den Impulsiveren oder Egozentrischeren, wäre so etwas niemals in den Sinn gekommen. Cooper wusste noch nicht genug über Marie Tennent, um sagen zu können, zu welchem Typ sie gehörte.
Als er auf die Küche zuging, erkannte er den Geruch schlagartig. Er war so eindeutig, dass er kaum glauben konnte, dass er nicht sofort geschaltet hatte: eine Mischung aus nassen Vliestüchern und schmutzigen Windeln, Plastikflaschen und Sterilisierungslösung, warmer Milch und Waschpulver. Es roch eindeutig nach Baby.
13
B en Cooper hämmerte gegen die Tür von Nummer 8, dann versuchte er es beim nächsten und dann beim übernächsten Haus. Niemand öffnete. Sogar der Mann mit dem Dobermann schien verschwunden zu sein oder weigerte sich, die Tür aufzumachen.
Nachdem er in der Zentrale um Verstärkung gebeten hatte, kehrte Cooper in Marie Tennents Haus zurück und ging noch einmal rasch durch sämtliche Zimmer. Beim Gedanken, irgendwo im Haus könnte ein Baby liegen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Wie lange konnte ein Baby überleben, wenn es allein gelassen wurde? Er hatte nicht die geringste Ahnung, nur den Verdacht, dass Babys unablässig Nahrung und Fürsorge brauchten. Doch diese Ahnung stammte lediglich aus der Zeit, als er aus sicherer Entfernung seine Schwägerin Kate beobachtet hatte, als seine beiden Nichten noch ganz klein gewesen waren. Josie und Amy hatten geweint, wenn sie Hunger hatten und wenn ihre Windeln gewechselt werden mussten. Wenn sich hier im Haus wirklich ein verlassenes Baby befand, würde es bestimmt inzwischen weinen. Schon längst. Außerdem hätten es die Nachbarn hören müssen, ganz bestimmt. Und die Nachbarn hätten es gemeldet, auch wenn sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, die Polizei darüber zu informieren, dass sie die Mutter des Kindes schon geraume Zeit nicht mehr gesehen hatten.
Diese Überlegung beruhigte Cooper ein wenig, während er hektisch Küchen- und Kleiderschränke aufriss. Aber dann sah er sich die Wände an und stellte fest, wie dick sie waren. Die Steinhäuser waren über hundertfünfzig Jahre alt und für die Spinnereiarbeiter zu einer Zeit errichtet worden, in der Häuser noch für mehrere Generationen gebaut wurden. Er hatte es hier mit soliden Wänden zu tun und nicht mit Verschlägen aus Bauholz und Gipskarton, die man mit der Faust zertrümmern konnte. Da weder Tür noch Fenster offen standen, hörte er von draußen keinen Laut. Ein Baby konnte sich sehr wohl die Lunge aus dem Leib gebrüllt haben, ohne gehört zu werden. Vielleicht hatte es sich einfach zu Tode geschrien.
Er schob das Durcheinander an der Rückwand des Verschlags unter der Treppe zur Seite – einen Staubsauger, eine Teppichrolle, Pappkartons und einen ausgemusterten Couchtisch mit Glasplatte. Wann immer er etwas beiseite rückte, erwartete er dahinter ein kleines Bündel zu sehen. Doch da war nichts.
»Ben?«
Ausnahmsweise war er froh, Diane Frys Stimme zu hören. »Hier«, rief er. »Gut, dass du da bist!«
Fry blieb im Türrahmen stehen und sah sich im Zimmer um, ohne von Cooper Notiz zu nehmen. Sie ging um das Sofa herum, blieb am Fenster stehen und fuhr mit dem Finger über den Schmutzfilm auf der Scheibe. »Putzen die Leute hier denn keine Fenster?«
»Kommt drauf an, ob man Wert auf die Aussicht legt«, antwortete Cooper.
»Du sprichst schon wieder in Rätseln, Ben. Das passt nicht zu dir. Wo hast du schon nachgesehen?«
Ȇberall. Aber nicht
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