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Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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Beitrag am frühen Nachmittag des gleichen Tages gedreht worden war, denn im Osten ballten sich bereits Wolken zusammen, während auf den kahlen Felsvorsprüngen am Gipfel des Irontongue Hill immer noch vereinzelte Sonnenstrahlen lagen. Der Regisseur musste von dem Effekt genauso begeistert gewesen sein wie von Alison Morrisseys Kameratauglichkeit.
    Der Kontrast zu DCI Kessen, der sich in der Hauptnachrichtensendung mit einem Aufruf hinsichtlich des Verbleibs von Marie Tennents Baby an die Öffentlichkeit gewandt hatte, war nicht zu übersehen. »Wir sind sehr besorgt, was das Wohlergehen des Kindes betrifft«, hatte er gesagt. Genau genommen hatte er es dreimal gesagt, ohne dass es ihm gelungen wäre, seine Stimme aufrichtig klingen zu lassen.
    Als das nächste Thema kam, ein lustiger Beitrag über eine kuriose Tradition in North Yorkshire, starrte Cooper noch eine Zeit lang geistesabwesend auf den Bildschirm.
    Im Moment passierte in seinem Leben so viel, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, sich auch noch mit einer siebenundfünfzig Jahre zurückliegenden Geschichte zu beschäftigen. Doch die Anzeichen für den Beginn einer Besessenheit waren eindeutig. Sie gingen stets mit dem Wunsch einher, alles herauszufinden, was es zu dem Thema zu wissen gab, und der Tendenz, sogar dann darüber nachzudenken, wenn er eigentlich im Dienst war.
    Er konnte von Glück sagen, dass er mit dieser Neigung zu Fantastereien in seinem Job bei der Polizei so lange überlebt hatte. Bislang hatten ihm seine Vorgesetzten aufgrund seines guten Rufes eine Menge Freiraum gelassen. Natürlich spielte auch seine Herkunft eine Rolle. Er war Sergeant Joe Coopers Sohn. Wen wunderte es also schon, wenn er ab und zu ein bisschen durcheinander war? Aber jetzt war sich Cooper mehr denn je darüber im Klaren, dass er sich vorsehen musste.
    Er schaltete den Fernseher aus und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Mann, mit dem er sich momentan am liebsten unterhalten hätte, war Walter Rowland, das ehemalige Mitglied der RAF-Rettungsmannschaft, das damals an der Absturzstelle gewesen war. Mit Ausnahme von Zygmunt Lukasz war Rowland seines Wissens der einzige überlebende Zeuge. Aber es war ein langer Tag gewesen, und Cooper war müde. Vielleicht ergab sich morgen eine Möglichkeit, mit Rowland Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich war es ohnehin reine Zeitverschwendung. All das lag schließlich eine Ewigkeit zurück, und Rowland war inzwischen ein alter Mann, der die ganze Geschichte höchstwahrscheinlich längst vergessen hatte.
    Da er den Fernseher ausgeschaltet hatte, verpasste Cooper die nächste Nachrichtensendung, in der berichtet wurde, man habe am Absturzort eines alten Flugzeuges am Irontongue Hill menschliche Überreste gefunden.
    Seit er in Rente gegangen war, hörte Walter Rowland in seiner Werkstatt gern Radio. Die Stimmen leisteten ihm bei der Arbeit Gesellschaft und halfen ihm, die immer stärkeren Schmerzen zu vergessen, die seine Hände manchmal tagelang verkrampften. Das Gebrabbel der Nachrichtensprecher, die von Geschehnissen in und um Derbyshire berichteten, hatte etwas Beruhigendes. Es vermittelte ihm das Gefühl, dass es ihm dort, wo er war, gut ging. Dass er nicht irgendwo dort draußen umherirrte, in diesem pausenlosen Wahnsinn aus Autounfällen, Hausbränden und endlosen, unverständlichen Diskussionen über Themen, von denen er nichts verstand. Was er jedoch heute Abend im Radio hörte, ließ ihn an seiner Drehbank aufhorchen. Er starrte auf einen Kringel Holzwolle, der von dem halb fertigen Stuhl herunterbaumelte und gleich abfallen würde. Er hatte vergessen, was er eigentlich vorgehabt hatte.
    Als die Maschine der Royal Air Force am Irontongue Hill verunglückte, war Rowland gerade achtzehn Jahre alt geworden. Er hatte sich zwölf Monate vor Kriegsende freiwillig gemeldet und war nie an der Front gewesen. Stattdessen hatte man ihn zur Bergrettung der RAF eingezogen, zu einer Einheit, die ihren Stützpunkt am Harpur Hill hatte. Doch am Ende hatte er doch noch etwas vom richtigen Krieg mitbekommen; jede Menge Tote und Verletzte, die jedoch alle von der eigenen Seite waren – britische und amerikanische Flieger, auch Kanadier, Australier und Polen, die nicht im feindlichen Beschuss umgekommen waren, sondern an den Berghängen des Peak District. Viele von ihnen waren unüberlegt in die tödliche Umarmung des Dark Peak geflogen, jene alte Falle, die zwischen der niedrigen Wolkendecke und dem ansteigenden

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