Kaltes Grab
Gelände lauerte.
An diesem Abend gab es nichts Besonderes in den Nachrichten, doch dann hörte er den Sprecher etwas von menschlichen Überresten und einem Flugzeugwrack am Irontongue Hill sagen. Die wenigen Worte reichten aus, um Rowland über ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit zu versetzen, zu einem brennenden Flugzeug auf einem schneebedeckten Berg und das Blutbad darum herum. Überall hatten damals menschliche Überreste gelegen, rings um das Flugzeug, und in dem Wrack selbst hatten Männer gesessen, die wie Steaks gegrillt worden waren.
Er überlegte, ob es möglich war, dass es noch eine Leiche gegeben haben könnte, die von der Rettungsmannschaft übersehen worden war, ein tödlich verletztes Mitglied der Besatzung. Aber dann fiel ihm wieder ein, wie akribisch die Trümmer damals durchsucht worden waren, nicht nur von den Rettungsmannschaften und der örtlichen Polizei, sondern auch später von der Bergungseinheit der Luftwaffe. Und er erinnerte sich daran, wie viele Trümmer im Laufe der Jahre verschwunden waren – von Souvenirjägern oder von neugierigen Wanderern mitgenommen oder den wütenden Sturmböen überlassen, die im Winter über das öde Land fegten.
Rowland wischte mit dem Handrücken die Holzspäne von seinem Overall.
»Unmöglich«, sagte er zu dem Stuhlbein auf seiner Werkbank. »Das kann gar nicht sein.«
Er hatte das Interesse an dem Stuhl verloren. Die glatte Oberfläche und die anmutig geschwungenen Beine waren unwichtig, sie waren nur noch der Versuch eines alten Mannes, sich abzulenken und sich die Erinnerungen vom Leibe zu halten. Seine Hände waren ohnehin nicht mehr so geschickt wie früher. Die Arthritis war zu weit fortgeschritten, und die Schmerzen waren inzwischen so schlimm, dass er das Holz kaum mehr richtig festhalten konnte. Er wusste, dass er den Rest der Woche leiden musste, als Strafe für die kurze Zeit, die er mit der Arbeit an dem Stuhl zugebracht hatte. Manche Leute rieten ihm, damit aufzuhören und endlich einzusehen, dass er sich vergeblich abmühte. Doch der Tag, an dem er das einsah, wäre sein letzter.
Rowland öffnete die Hintertür der Werkstatt und spuckte hustend einen Mund voll Sägespäne auf den Pfad. Der Schnee färbte sich dunkel. Dann hob er langsam den Kopf und sprach zum Nachthimmel, als könnte die eisige Luft seine Stimme zum Irontongue Hill hinauftragen, wo die Reste der Lancaster SU-V lagen.
»Alle, die beim Absturz gestorben sind, haben wir rausgeholt«, sagte er. »Und der eine, der den Tod verdient hätte … der Dreckskerl ist einfach abgehauen.«
16
D ie kleinen Knochen auf dem Tisch im Leichenschauhaus sahen bedauernswert aus. Dunkler Torf war auf dem Skelett festgetrocknet und vorsichtig in einen Indizienbeutel gefegt worden, als er abbröselte. Einige Knochen waren zerbrochen oder zermalmt worden, als Hauptfeldwebel Josh Mason den Flügel von Sugar Uncle Victor auf sie fallen gelassen hatte.
»Ohne den Schädel könnte man es wirklich für ein totes Lämmchen halten«, sagte Juliana Van Doon. »In diesem Alter sind sie noch kaum ausgebildet.«
»Wie alt war das Kind?«, wollte Diane Fry wissen.
»Hmm. Vielleicht zwei Wochen. Wir bitten einen forensischen Anthropologen, sich das Skelett genauer anzusehen. Die einzigen Verletzungen, die ich feststellen kann, sind eindeutig post mortem.«
»Diese dämlichen Fliegerkadetten.«
»Ihnen kann man wohl keinen Vorwurf machen.« Die Gerichtsmedizinerin benutzte ein kleines Metallinstrument, um ein lebendiges Insekt, das sich zum Überwintern im Kiefergelenk eingenistet hatte, zu entfernen und in eine andere Tüte zu stecken. »Ich weiß aus der Zeitung, dass Sie nach einem kleinen Kind gesucht haben. ›Hat jemand die kleine Chloe gesehen?‹«
»Stimmt«, sagte Fry.
»Also, das Geschlecht dieses Kindes hier kann ich nicht bestimmen. Aber eins kann ich mit Sicherheit sagen – es ist nicht Chloe. Dieses Baby ist schon viele Jahre tot.«
Fry nickte und betrachtete die Plastiktüten mit dem rosafarbenen Häubchen und dem weißen Strickjäckchen, die bei dem Baby gefunden worden waren.
»Allerdings«, fuhr sie fort, »sind die Sachen, die es anhatte, funkelnagelneu.«
Am Freitagmorgen hatte DC Gavin Murfin in den Datenbanken der Vermisstenstellen immer noch keinen passenden Datensatz für den Schneemann gefunden. Er war drauf und dran aufzugeben. Auf der Liste fanden sich die üblichen vermissten Ehemänner und Söhne. Es gab Männer mittleren Alters, die der Midlifecrisis
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