Kaltes Herz
trockenem Gras. Ein einfacher schwarzer Violinkoffer, feucht und abgestoßen, und er war neugierig, was sich darin befinden mochte. Aber er hatte versprochen, ihn geschlossen zu lassen, und er hielt sich daran.
Als er mit dem Koffer durch die Bäume zurückkam, hatte der Alte Heinz Graf schon losgebunden, und Charlie wunderte sich über diesen Leichtsinn, denn der Jüngere hätte ihn leicht überwältigen können. Doch Heinz Graf verhielt sich zahm, sprach kein Wort und glotzte bloß mit tränenfeuchten Augen vor sich hin. Vielleicht hatte er seine Niederlage akzeptiert,
«Du brauchst dir gar nicht so leidzutun», schimpfte der Alte ihn aus. «Ich hab deinen Vater gekannt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sag ich. Los jetzt, da lang.»
Und er trieb, ganz ohne Charlies oder Hunds Hilfe, Heinz Graf vor sich her bis zu seinem Haus, ließ ihn die Kellertreppe hinabgehen und schloss hinter ihm zu.
«Und wehe, du vergreifst dich an Hildes Eingemachtem», rief er ihm durch die geschlossene Tür hinterher.
Charlie setzte sich neben Hetti auf die Bank und legte einen Arm um sie, und auch Hund und der Alte machten es sich bequem und ließen sich Schafskäse, Brot und Milch servieren.
«Und nun?», fragte die Hausherrin. «Was machen wir mit dem Bengel? Was ist überhaupt geschehen, Kindchen?»
Hetti hielt einen Becher warme Milch in den Händen und trank in kleinen Schlucken. Charlie saß neben ihr, sein Arm lag um sie und fühlte sich an wie ein undurchdringlicher Panzer. Sie war in Sicherheit.
«Ich wollte zurück nach Berlin», sagte sie und wandte sich halb zu Charlie um. «Zu dir.»
Charlie drückte sie noch ein wenig fester an sich.
«Heinz Graf hat mich mitgenommen, er wollte mich zum Bahnhof bringen, und dann …»
Hetti sprach nicht weiter. Sie wusste nicht, wie sie das, was geschehen war, in Worte fassen konnte, wie man so etwas erklärte. Vielleicht hätte sie es Charlie erklären können, aber nicht zwei völlig fremden Menschen. Hetti senkte den Blick.
«Dann hat er mich angegriffen, und ich habe das Bewusstsein verloren. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht, und ich war allein im Wald. Ich habe mich auf den Weg gemacht, aber …» Hettis Kehle schmerzte, und sie brachte nicht mehr als ein flaches Krächzen heraus. «Ich habe die ganze Zeit gesungen, damit du kommst, Charlie, ich habe für dich gesungen, wie du es mir gesagt hast, ich habe dich herbeigesungen.»
Der alte Bauer und seine Frau warfen sich einen Blick zu, den Hetti nur allzu leicht deuten konnte. Sie hielten sie für verrückt, aber sie war sich sicher, dass Charlie verstand, was sie meinte.
«Dann hat er mich gefunden, bei den Schafen, und …»
Erneut verstummte Hetti.
«Und was dann passiert ist, wissen wir ja», ergänzte Charlie. «Schweig jetzt besser, du wirst deine Stimme noch brauchen.»
Er strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann wandte er sich an den Hausherrn.
«Können Sie mir einen Wagen leihen, damit ich ihn zur Polizei schaffen kann?»
«Sie können den Einspänner haben. Ich komme am besten gleich mit und bestätige die Geschichte.»
Die beiden Männer standen auf, und plötzlich fühlte Hetti sich wieder ängstlich. Sie wollte nicht noch einmal allein mit einer Fremden in einem fremden Haus bleiben, sie wollte nicht noch einmal zurückgelassen werden.
«Nehmt mich mit», bat Hetti.
«Willst du dich nicht lieber ausruhen, schlafen?»
Hetti schüttelte den Kopf, wild entschlossen, mit Charlie zu gehen, und ein Blick in seine Augen genügte, um zu wissen, dass es auch ihm schwerfiel, sie jetzt schon wieder loszulassen.
«Gut. Dann können wir auch zum Arzt fahren», sagte er.
Hetti nickte, stand auf, aber ihre Beine knickten ein. Charlie fing sie auf.
«Ja, zum Arzt», hörte sie ihn noch sagen, bevor sie sich erleichtert dem Schlaf überließ.
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31
S ie hatten Heinz Graf bei der Polizei gelassen, die Suche nach Henriette Keller wurde abgebrochen. Dann wollten sie den Arzt aufsuchen, erfuhren aber, dass der Herr Doktor draußen beim Pflog-Hof sei. Charlie hätte Hetti am liebsten sofort mit nach Berlin genommen. Aber unter den gegebenen Umständen war es wohl besser, wenn sie sich gründlich untersuchen ließ und sich ein paar Tage erholte, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg machten. Auf den Weg in ihr Leben. Außerdem wäre es nicht anständig gewesen, ohne Altheim und Willem zu fahren, der alte Gesangsprofessor machte sich bestimmt große Sorgen
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