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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Wärme, endlich Licht, und ließ den Blick schweifen.
    Zuerst war sie sich nicht sicher, ob sie sich die Bewegung nur einbildete, denn sie musste gegen die Sonne schauen. Sie wartete, ob der Eindruck sich verstärkte, und tatsächlich: Dort näherte sich etwas. Jemand, ein Mensch. Er kam den sanften Hang vom Wald her über die Wiesen herab, direkt auf sie zu. Henriettes Herz machte einen Satz. Sie hob einen Arm, winkte. Und der Mensch beschleunigte seine Schritte, fiel sogar in einen leichten Trab, um schneller bei ihr zu sein. Henriette kannte diese Art der Bewegung, sie hatte das schon einmal gesehen, ein wenig schlenkernd, mit weit ausholenden Armbewegungen. Als es zu regnen angefangen hatte, ihr erster Tag auf dem Pflog-Hof, die Wäsche war nass geworden, und alle waren gelaufen, um die Bezüge, Laken, Tischtücher von den Leinen zu reißen und ins Trockene zu schaffen. Da war er auch dabei gewesen. Heinz Graf.
    Henriette drehte sich um und kehrte in den Viehunterstand zurück, nicht zu schnell, ganz normal. Sie war nur ein Bauernmädchen, das mit den Schafen beschäftigt war und einem Wanderer einen Gruß zugewinkt hatte. Ein Blick über die Schulter, wie zufällig. Er kam noch immer auf sie zu, noch immer hatte er es eilig. Sie konnte jetzt sein Gesicht erkennen, die bleiche Haut, das fliehende Kinn. Er hatte ihren Blick bemerkt, fixierte sie, als könne er sie so zwingen, an Ort und Stelle zu bleiben und auf ihn zu warten.
    Henriette zögerte nicht länger. Fort von ihm! Die Röcke hochgerafft, rannte sie über die freie Fläche der Weide auf eine Baumgruppe zu, die ihr unerreichbar erschien. Sie fühlte sich wie ein Stück Wild, das auf die Kugel des Jägers wartet, wie in einem Traum, in dem man zu rennen versucht, doch die Füße nicht vom Boden bekommt oder auf der Stelle tritt, sosehr man sich auch anstrengt. Henriette öffnete den Mund zu einem Schrei, einem wilden Gesang, und endlich löste sich die Lähmung ihrer Beine, endlich konnte sie richtig rennen, sie war genauso schnell wie Charlie, sie würde es schaffen. Der Gedanke an Charlie ließ ihr Herz für einen Schlag aussetzen. Der Violinkoffer! Er war noch in dem Unterstand. Ohne den Koffer würde sie Charlie nicht finden, sie war sich ganz sicher, dass sie ihn brauchte. Aber wenn Heinz Graf sie erreichte, würde sie Charlie ebenfalls nicht finden. Mit einem Schlag wurde Henriette bewusst, worum es hier ging. Heinz Graf war nicht gekommen, um sich zu vergnügen. Er war gekommen, um sie zu töten. Henriette hatte keinen Atem mehr zum Singen, ihre Beine brauchten jetzt alle Kraft, es war nicht mehr weit, ein letzter Sprint, wenn sie nur die Baumgruppe erreichte, dann konnte sie sich vielleicht vor ihm verstecken.
    Heinz Graf hatte keinen Ton von sich gegeben, hatte sie nicht gerufen, aber jetzt war sein keuchender Atem dicht hinter ihr, fast spürte sie seine Hände, seine Versuche, nach ihr zu greifen, und die Baumgruppe war immer noch viel zu weit weg. Sie würde es nicht schaffen, so nicht.
    Abrupt blieb Henriette stehen, ließ Heinz Graf von hinten in sich hineinlaufen, nutzte den Schwung, den er mitbrachte, um ihn zu stoßen und einen Haken zu schlagen und weiterzurennen. Schneller. Doch Heinz Graf stürzte nicht, er stolperte nur, fing sich wieder.
    «Miststück», zischte er dicht hinter ihr.
    Dann fühlte sie seine Finger an ihrer Hüfte, er griff in den Stoff ihres Rockes. Sie riss sich los, lief weiter. Jetzt war sie da, endlich, sie schoss zwischen Baumstämmen hindurch, sprang über abgebrochene Äste hinweg, rauschte durch das hohe Farnkraut, blieb mit den Röcken im Unterholz hängen, zerrte, zog, warf sich voran. Vor sich sah sie etwas Rotes zwischen den Stämmen hindurchschimmern, vielleicht eine Scheune, vielleicht ein ziegelgedecktes Dach. Hilfe war so nah gewesen, und sie hatte es nicht gewusst. Henriette schluchzte vor Verzweiflung, pflügte sich weiter voran zwischen Büschen hindurch, die ihr das Gesicht zerkratzten, und wieder fühlte sie sich wie in einem Traum, als schwämme sie durch eine zähe Masse, kurz davor unterzugehen, unfähig zu atmen. Silberne Lichter tanzten vor ihren Augen, und ihre Beine waren zu schwer, um weiterzulaufen. Dann ein Stoß im Rücken, Henriette schlug der Länge nach hin, das letzte bisschen Atem wurde aus ihren Lungen gepresst.
    Als er sich auf sie warf, fuhr sie ihm mit den Händen ins Gesicht, in die Augen, die vor Wut starrten. Heinz Graf packte Henriettes Handgelenke, presste sie hart zu

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