Kaltes Herz
schnellem Rhythmus, und ihre Augen sprühten vor Leben. Konnte es tatsächlich sein, dass sie diese wilde Jagd genoss?
Sie zog Charlie weiter durch den von Hufen, Rädern und Füßen aufgewühlten Schlamm. Eigentlich hatte Charlie ihr den Affen mit seinen Freibierbilletts zeigen wollen, aber nun waren sie gewissermaßen durch den Seiteneingang gekommen. Und den Mann mit dem Opernglas hatte Charlie natürlich auch aus den Augen verloren.
Heute war viel mehr los auf dem Platz, die bunten Markisen leuchteten in der Sonne, die Luft war klebrig vom Hopfengestank, aber das war weit besser als die aasige Kälte zuvor. Charlie und Henriette tauchten tiefer ins Gewühl, schlugen eine langsamere Gangart an. Erst jetzt bemerkte Charlie, dass er Henriettes Hand so fest drückte, dass es ihr Schmerzen bereiten musste.
Er lockerte den Griff, entdeckte ein nervöses Zucken um ihren Mund, ein Lachen, das sich jeden Moment Bahn brechen musste, und auch er fühlte etwas Wildes in sich, das hinauswollte. Charlie wollte nicht denken, nicht jetzt, denn jetzt wollte er etwas anderes, und er zog Henriette zwischen zwei schweren Öltuchbahnen hindurch in ein Zelt, drängte sie in einen Winkel, zog sie an sich, enger, legte seine Lippen auf die ihren. Er dachte nichts, erwartete nichts und war dennoch überrascht, als sie sich an ihn presste, ihre Lippen für ihn öffnete, er spürte das Schlagen ihres Herzens unter seiner Hand, wusste, was sie fühlte, wusste, was er zu tun hatte, er hatte genug Erfahrung mit Frauen, und er wollte ihrem Verlangen genügen.
Nur: Etwas war anders als sonst. Er wollte sie nicht verletzen, wollte nicht etwas zerstören, das kaum begonnen hatte. Und da war … noch etwas. Dieses schwere Pochen in seiner Handfläche, diese Gewalt, mit der ihr Herz schlug, gebot ihm Einhalt. Dennoch ließ Charlie seine Hand liegen, wo sie war. Was irritierte ihn so sehr an ihrem Herzschlag? Was daran kam ihm so fremd, so beinahe unheimlich vor, dass er seine Hand schließlich zurückzog? Als sie ihn fester umschlingen wollte, mit raschelnden Röcken und schwer atmend, ihr Blick groß, verletzlich und voller Fragen, schob er sie von sich. Warum machte er sich von ihr los, statt ihr zu geben, wonach ihrer beider Körper verlangten? Er hatte das doch schon oft getan.
Aber noch nie hatte er ein solch abgründiges Gefühl dabei gehabt. Charlie hielt Henriette auf Armlänge von sich, schaute sie an. Ihr Gesicht war von einem dünnen Schweißfilm überzogen, ihre Pupillen waren geweitet, und sie sah jetzt nicht mehr ihn an, sondern starrte ausdruckslos an ihm vorbei. Sie kam Charlie wie ein Automat vor, und er war erleichtert, als ihre Hand zum Mund hochschnellte, um eine menschliche Regung, einen Schrei zu unterdrücken.
Er legte einen Arm schützend um ihre Schultern und wandte sich um, erwartete den Mann mit dem Opernglas hinter sich. Doch im Dunkel des Zeltes sah er zunächst nichts als ein unverständliches Muster aus farbigen Flecken.
«Was ist mit ihm?», flüsterte Henriette.
Erst jetzt fügten sich die Farben auch für Charlie zu seinem Bild. Kaum zwei Schritte neben ihnen stand ein Thron aus goldfarben lackiertem Holz auf einem Podest aus rohen Planken, und auf dem Thron saß, eine Messingkrone schief auf das krause Haupt gedrückt, ein halbnackter Mann und starrte ins Leere. Auf einem Schild vor dem Thron stand in eckiger Schrift geschrieben:
Der Negerkönig wird zum weißen Mann!
Tatsächlich war der Mann auf dem Thron gescheckt wie eine Holsteinkuh, die Haut in großen Partien durchscheinend wie Elfenbein, an anderen Stellen ebenholzschwarz.
Charlie lachte erleichtert.
«Nur eine von den Attraktionen», sagte er und deutete auf die Kette, die dem Mann um einen erbleichten Knöchel geschmiedet war.
«Siehst du? Er kann dir nichts tun.»
Er war sich nicht sicher, ob Henriette die vertrauliche Anrede akzeptieren würde, aber in diesem Moment, nach dem, was vorgefallen war, schien es ihm unmöglich, sie förmlich anzureden.
«Armer Mensch.»
Charlie lachte. «So arm ist er nicht, immerhin verwandelt er sich in einen weißen Mann.»
Henriettes Stimme blieb leise, als sie antwortete.
«Fragst du dich nicht, welches Schicksal ihn hierhergebracht hat? Ob er freiwillig gekommen ist? Ob er sich nach seiner Familie sehnt?»
Nein, Charlie fragte sich nichts davon, wollte sich nichts davon fragen. Was ging ihn das an, er hatte genug mit seinen eigenen Problemen zu tun, und die waren weiß Gott nicht
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